Vivian Gornick: Eine Frau in New York
Aus dem Englischen von pociao
Penguin Verlag, München 2020
160 S., 20 Euro
Ein Überlebensratgeber für die große Stadt
06:06 Minuten
In den 1930er-Jahren in der Bronx geboren, fuhr Vivian Gornick mit 14 Jahren zum ersten Mal nach Manhattan. Eine Flaneurin ist sie geblieben. In "Eine Frau in New York" nimmt sie uns mit auf ihre Streifzüge durch die Metropole früher und heute.
Sie war vierzehn Jahre alt, als sie zum ersten Mal nach Downtown Manhattan fuhr. Vivian Gornick wurde 1935 in New York geboren, allerdings in der Bronx - und "das war, wie in einem Dorf aufzuwachsen". Auch wenn Manhattan nur eine Subway-Fahrt entfernt war, schien es ihr wie "Arabia", wie eine fremde, verlockende Welt. Als junges Mädchen begann die Autorin mit ihren Spaziergängen, ihren Streifzügen durch die große Stadt, "erregt und gespannt, und Abend für Abend in die Bronx zurückgekehrt, wo ich darauf wartete, dass das Leben begann".
Der ersehnte Beginn führt in eine frühe Ehe, mit deren Hilfe sie aus der Enge ihrer jüdischen Umgebung ausbrechen, ihrer fordernden und depressiven Mutter entkommen kann. Herkunft und Prägung will sie hinter sich lassen und wiederholt dann – wenn auch unter anderen Vorzeichen – die verachteten weiblichen Muster.
Erst nach ihrer zweiten gescheiterten Ehe wird ihr klar, dass sie unabhängig von einem Mann leben und begehren kann, wird sie "sexuell erwachsen" und "zum ersten – aber nicht zum letzten – Mal hatte ich bewusst das Gefühl, dass Männer zu einer anderen Spezies gehören als wir Frauen. Getrennt von uns und fremd".
Eine Feministin der alten Schule
Die Autorin ist eine Meisterin des autofiktionalen Erzählens: Sie schreibt über Sexualität und Sinnlichkeit, über die Souveränität und die Traurigkeit des Alters, das keine romantische Liebe mehr bereit hält. Sie ist eine Feministin der alten Schule, von der gerade junge Feministinnen eine Menge lernen können, denn sie stellt die Ideologie der 1970er-Jahre, als sie auf dem "hohen Ross des radikalen Feminismus saß", ebenso in Frage wie heutige Identitätspolitik. Nebenbei geht es auch um die Zunahme gemischtrassiger Paare, worin sie froh einen Fortschritt im anhaltend rassistischen Amerika erkennt.
Vivian Gornick ist eine Flaneurin, eine Stadtdurchstreiferin: Sie nimmt uns mit auf ihren Gängen, erzählt von ihren Begegnungen mit unfreundlichen oder verwirrten New Yorkern, einer alten weißen Frau etwa, die sie anschnauzt, nachdem sie sich freundlich erkundigt hatte, ob mit ihr alles in Ordnung sei oder einem schwarzen Mann, den sie im Bus bittet, leiser ins Handy zu sprechen. Er beschimpft sie daraufhin als "blöde weiße Schlampe". Der Artikel, den sie über den Vorfall für die "Times" schreibt, wird von der Redaktion abgelehnt.
Es geht aber auch und vor allem um den Wert von Freundschaft in diesem ungewöhnlichen Stadt- und Lebensbuch und um den der Literatur. Sie macht neugierig auf die Romane von Isabel Bolton und die Gedichte von Edna St. Vincent Millay, denkt über das Verhältnis zwischen Henry James und Constance Fenimore Woolson nach und vor allem und immer wieder über das, was New York heute ist und was es früher einmal war.
Eloge auf Temperament der Einwohner
Auf den Einwand einer Freundin, sie romantisiere die Stadt, die in Wahrheit dem Untergang geweiht sei, antwortet sie mit einer Eloge auf das Temperament der Einwohner. Und auf die unterschiedlichen Stimmen, die diese Stadt ausmachen: "Wenn man in New York aufgewachsen ist, sieht man das Leben nicht als Archäologie von Strukturen, sondern von Stimmen."
Die "New York Times" schrieb nach Erscheinen des Buchs 2015 es könne wie ein Überlebensratgeber gelesen werden. Das gilt für die Stadt heute, die sich von der Corona-Katastrophe erst erholen muss, in besonderem Maße.