Opfer zweiter Klasse darf es nicht geben!
Die Verbrechen der Kolonialzeit aufzuarbeiten, bereite hierzulande Probleme, kommentiert Christiane Habermalz. Dabei werde der Völkermord an den Herero von den Vereinten Nationen auch als solcher eingestuft. Deutschland müsse sich endlich zu seiner Verantwortung bekennen.
Die Deutschen sind die Musterknaben der Vergangenheitsbewältigung. Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden in jedem Schulbuch, in jeder öffentlichen Äußerung in Politik und Gesellschaft als das bezeichnet, was sie waren: Kapitalverbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch bei der Anerkennung des türkischen Völkermords an den Armeniern waren die Deutschen ganz vorne dabei.
Doch die eigene Kolonialvergangenheit, zu der auch der Völkermord an den Herero und Nama gehört, die von deutschen Schutztruppen gnadenlos erschossen, in die Wüste getrieben, in Konzentrationslagern vernichtet wurden, bereitet ihnen Probleme. Lange wurde die deutsche Herrschaft in Afrika im historischen Rückblick verharmlost: Deutsch-Südwestafrika, das war preußische Ordnung und Effizienz im rückständigen Afrika, das sind noch heute kuriose deutsche Straßennamen in namibischen Dörfern, Afrikaner, die Otto Müller oder Adolf Krause heißen. Und sie war ja auch so kurz, die deutsche Kolonialzeit, gerade einmal 30 Jahre dauerte sie.
Erster Genozid des 20. Jahrhunderts
Doch aus afrikanischer Sicht hat diese Zeit tiefe Wunden hinterlassen. Sie reichte, um mit deutscher Gründlichkeit eine brutale Fremdherrschaft aufzubauen und als Vergeltung für den Aufstand der Herero und Nama den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts zu begehen. Als solcher wurde er im Völkermordbericht der Vereinten Nationen klar eingestuft. An den Folgen tragen die Menschen bis heute.
Die Schädel der geköpften Anführer wurden in Berlin von Wissenschaftlern vermessen, um den deutschen Herrschaftsanspruch rassenideologisch zu untermauern. Einer von ihnen war ein junger Student namens Joseph Mengele. Und schon damals ging es um deutschen Lebensraum. Das Herero-Land wurde nach der Ermordung und Vertreibung der Besitzer beschlagnahmt und an deutsche Siedler verteilt, viele von ihnen Angehörige der Schutztruppen, die im Land blieben. Bis heute befindet sich 75 Prozent des kommerziellen Landes in Namibia in der Hand weißer Farmer, die Nachfahren der Herero und Nama dagegen leben in größter Armut.
Recht auf die historische Schuld der Täter
Doch die deutschen Regierungen, egal welcher Couleur, üben sich seit Jahren in der immer gleichen Abwehrstrategie. Schmerz und Bedauern über die damaligen Ereignisse: ja, aber Anerkennung als Völkermord, offizielle Entschuldigung – nein. Lieber wird auf verstärkte Entwicklungshilfe gesetzt. Namibia ist das Empfängerland Nummer 1. Darin befindet sich die Bundesregierung in fataler Eintracht mit der namibischen Regierung, die lieber Entwicklungsgelder für das ganze Land will, als Entschädigung für einzelne Volksgruppen. Doch die landlosen Herero und Nama profitieren davon kaum. Als Opfer haben sie zudem ein Anrecht auf Anerkennung der historischen Schuld durch die Täter.
Es hilft nichts: Bundesregierung, Bundestag und der Bundespräsident müssen sich zur deutschen Verantwortung für den Völkermord im damaligen "Deutsch-Südwestafrika" bekennen und die Nachfahren der Opfer förmlich um Entschuldigung bitten. Der 9. Juli, 100 Jahre nach dem Ende der Deutschen Kolonialherrschaft in Namibia, könnte dazu den Anlass bieten. Diese Gelegenheit wieder, wie schon so oft, verstreichen zu lassen, wäre beschämend. Es ist an der Zeit, dass sich das Musterländle der Vergangenheitsbewältigung endlich auch mit der Aufarbeitung seiner Kolonialvergangenheit befasst. Opfer zweiter Klasse darf es nicht geben.