Der Bundestag wollte keinen Schlussstrich für Nazi-Henker
Mord verjährt nicht – auch Völkermord nicht. Das war nicht immer so in der Bundesrepublik. Erst vor 50 Jahren, am 26. Juni 1969, hob der Bundestag die Verjährung bei Völkermord auf.
"Es gibt Überlebende, die aufschreien, aufschluchzen, und da sollten andere nicht wenigstens erbleichen? Das Unverjährbare kann nicht von der Tafel der Moral gelöscht werden durch parlamentarischen Beschluss."
Der österreichische Schriftsteller Jean Améry, Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, äußerte 1977 sein Unbehagen darüber, dass der Deutsche Bundestag jahrelang über die Verjährung von Mord und Völkermord debattierte. Das Bonner Parlament hatte erstmals 1965 beraten, ob nationalsozialistische Verbrechen über die damals gesetzlich vorgeschriebene Frist von 20 Jahren hinaus weiter strafrechtlich verfolgt werden konnten oder ob man einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen sollte.
Bundesjustizminister Ewald Bucher erklärte im März 1965 im Bundestag:
"Wir müssen uns entscheiden, ob wir dem verständlichen Ruf nach lückenloser Sühne für die verabscheuungswürdigen Verbrechen der NS-Zeit folgen. Ich sehe mit Sorge, wie die NS-Verfahren alle Beteiligten, vor allem aber die Gerichte, vor immer unlösbarere Aufgaben stellen."
Ein "Ausweichen vor der Verantwortung"
Die Debatte im Bundestag endete mit einem Kompromiss: Die Abgeordneten stimmten für eine Verlängerung der Verjährungsfrist, Morde aus der NS-Zeit konnten noch bis Ende 1969 geahndet werden. Damit hatte man eine grundsätzliche Lösung aber nur aufgeschoben.
Der langjährige freidemokratische Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum:
"Es war ein Ausweichen vor der Verantwortung. Heute würde niemand mehr daran zweifeln, dass Mord nicht verjährt. Aber damals eben nicht."
Im Frühjahr 1969 legten der Hamburger Senat und kurz darauf das Bundesjustizministerium Gesetzentwürfe vor, die beide vorsahen, die Verjährung für Mord und Völkermord vollständig abzuschaffen. Hamburgs Justizsenator Hans Heinsen erklärte dazu:
"Jeder Verjährungsgedanke beruht ja sonst vor allem auf dem Gedanken, dass die Zeit die Wunden heilt. Und wir sind der Meinung, dass bei Vergehen gegen das Leben eine solche Heilung nicht eintritt, weil das Leben des Opfers vernichtet ist."
Am 26. Juni 1969 debattierte der Bundestag über die geplante Aufhebung der Verjährungsfrist beziehungsweise eine erneute Verlängerung. Obwohl CDU und CSU mit der SPD eine gemeinsame Regierungskoalition bildeten, lehnte unter anderen der CSU-Abgeordnete Friedrich Zimmermann den Gesetzentwurf ab:
"Wir sehen uns nicht in der Lage, einem Gesetz zuzustimmen, das die Masse der so verschiedenartigen Fälle vom wirklichen Mörder bis zur Schreibkraft ohne Unterscheidung noch einmal zehn Jahre vor sich herschiebt."
Jahrzehntelang wurde die Aufarbeitung versäumt
Dagegen sprach sich Martin Hirsch für die Aufhebung der Verjährungsfrist aus. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende verwies auf zahlreiche, noch immer unaufgeklärte Verbrechen aus der NS-Zeit:
"Das neue Gesetz verhindert, dass in den künftigen Strafverfahren Mörder auf der Zeugenbank erscheinen, die auf die Anklagebank gehören. Es geht lediglich um diejenigen, die selbst grausam, heimtückisch oder aus niederen Beweggründen gehandelt haben."
Mit einer Zweidrittelmehrheit beschloss der Bundestag noch am selben Tag, die Verjährung für Völkermord aufzuheben und für Mord auf 30 Jahre heraufzusetzen, beginnend mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949. So musste sich das Parlament zehn Jahre später erneut mit der Frage auseinandersetzen. Am 3. Juli 1979 entschied der Bundestag, die Verjährung für Mord und Völkermord endgültig aufzuheben.
Jean Améry hatte dazu bereits früher angemerkt:
"Gegen die nivellierende Zeit ist nicht anzukommen. Aber alles Humane fordert nicht Recht, das es hier nicht geben kann, nur, dass man die Opfer begnadige, nicht die Henker."
Nach der Aufhebung der Verjährungsfrist konnten unter anderem ehemalige SS-Angehörige des KZs Majdanek 1981 wegen Mordes beziehungsweise Beihilfe zum Mord ebenso verurteilt werden wie 2012 der 91-jährige John Demjanjuk als Erfüllungsgehilfe im Vernichtungslager Sobibor. Nachdem die Justiz jahrzehntelang eine konsequente Verfolgung von Naziverbrechen versäumt hatte, war er einer der letzten noch lebenden Handlanger der NS-Massenmorde, der sich vor Gericht verantworten musste.