Der Mann, der die Niederlande verklagte
22:41 Minuten
Vor 25 Jahren überlebt Hasan Nuhanović das Massaker in Srebrenica, weil er als Dolmetscher für die niederländischen UN-Soldaten arbeitet. Danach glaubt er an deren Mitschuld, verklagt die Niederlande und bekommt Recht. Dennoch ist er enttäuscht.
Im Skype-Video blickt mich ein grauhaariger Mann an, in dessen Gesicht sich tiefe Furchen gegraben haben. Hasan Nuhanović sitzt in Sarajevo, Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Er ist 52 Jahre alt, ist Vater einer Tochter.
Vor 25 Jahren hat Nuhanović den Völkermord in Srebrenica überlebt, seine ganze Familie wurde von serbischen Soldaten ermordet. Doch für ihn waren nicht nur die Serben verantwortlich für den Tod seiner Familie – er glaubt: Auch die niederländischen UN-Soldaten haben eine Mitschuld an ihrer Ermordung.
Nach Ende des Bosnienkrieges begann er deshalb einen historischen Prozess: Er verklagte den niederländischen Staat. Nuhanović gegen die Niederlande.
"Ich wollte Gerechtigkeit"
"Sie haben behauptet, sie hätten meine Familie nicht den Serben ausgeliefert", sagt er. "Nicht nur meine Familie. Sie haben gesagt, sie hätten niemanden an die Serben ausgeliefert. Und ich wollte Gerechtigkeit, ich wollte, dass das Gericht bestätigt, dass ich die Wahrheit sage und nicht sie."
Nuhanović stammt aus einem kleinen Dorf im Osten des Landes. Als im Frühjahr 1992 der Krieg um das zerfallene Jugoslawien ausbricht, flieht er als 24-Jähriger mit seiner Familie vor den serbischen Truppen in die Berge. Sechs Monate sind sie unterwegs, dann erreichen sie die Stadt Srebrenica.
"Wir wussten, das Srebrenica in derselben Situation war, wie die Dörfer in den Bergen. Aber wenn du eine Stadt erreichst, glaubst du, zumindest weiß die Welt nun, wo du bist. Sie haben wenigstens eine Referenz auf der Karte. Und wir haben gehofft: Die Welt wird etwas unternehmen", erzählt er.
Am 17. April 1993 erklären die Vereinten Nationen die Stadt Srebrenica zu einer Schutzzone. Zwei Jahre lang bewachen internationale UN-Truppen den kleinen Ort, zuerst kanadische Soldaten und anschließend niederländische Truppen. In dieser Zeit lernt Nuhanović Englisch mit einem alten Schulbuch.
Schon nach wenigen Monaten beginnt er als Dolmetscher für die Niederländer zu arbeiten. Es wird ihm später das Leben retten: "Ich war in einer Situation, in der ich lernen musste. Ich hatte keine Wahl. Ich habe mir jeden Tag selbst gesagt: Lerne, lerne, lerne. Jeden Tag."
Niederländische UN-Soldaten leisten kaum Widerstand
Als der serbische General Ratko Mladić am 6. Juli 1995 seinen Angriff auf Srebrenica beginnt, leisten die niederländischen UN-Soldaten kaum Widerstand. Sie überlassen den Serben die Stadt. Die Menschen fliehen in Panik aus ihren Häusern und versuchten, auf das Gelände der UN-Soldaten in Potočari zu gelangen, das nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt.
Auf Videoaufnahmen aus der Zeit sieht man Hunderte Menschen, die sich verzweifelt vor das Gelände drängen. UN-Soldaten mit blauen Helmen bewachen die Eingänge, sie lassen niemanden rein.
Nuhanović zählt zu dem Zeitpunkt bereits offiziell als UN-Mitarbeiter. Er und seine Familie dürfen deshalb auf dem UN-Gelände bleiben. Noch immer hoffen sie: Die Niederländer werden sie beschützen. Doch dann kommt alles anders.
Es ist der 11. Juli 1995 als Ratko Mladić triumphierend in die Stadt Srebrenica einfährt. Ein kleiner Mann mit breiten Schultern in Camouflage-Uniform. Ein Kameramann begleitet ihn, die Videos werden später vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezeigt, wo man Mladić wegen Kriegsverbrechen anklagen wird.
Serben besetzen die Stadt
Doch in diesem Moment ist Mladić der Sieger. Nicht einmal eine Woche hat er gebraucht, um Srebrenica einzunehmen. Die Stadt ist komplett verlassen, ein Panzer der UN liegt im Straßengraben. Seine Kommandeure beglückwünschen ihn, küssen ihn auf beide Wangen.
"Wir geben diese Stadt dem serbischen Volk als Geschenk. Endlich ist die Zeit gekommen, um Rache an den Türken zu nehmen", so Mladić.
Mit den Türken meint er die muslimische Bevölkerung des Landes Bosnien-Herzegowina. Vermutlich plant er bereits in diesem Moment eines der schlimmsten Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, einen Völkermord.
Am Abend des 11. Juli fährt der niederländische UN-Kommandeur Thomas Karremans nach Srebrenica, um mit Mladić zu verhandeln. Dreimal werden sie sich insgesamt treffen, um über die Zukunft der Flüchtlinge zu sprechen. Auch von diesen Treffen gibt es Filmaufnahmen. Mladić und Karremans stehen sich gegenüber, sie sind umringt von serbischen Soldaten.
"Was ich immer zu sagen pflege: Ich bin nur ein Klavierspieler. Erschießen Sie nicht den Klavierspieler", sagt der niederländische UN-Kommandeur. "Sie sind ein schlechter Klavierspieler", antwortet Mladic.
Am folgenden Tag übergeben die Niederländer alle Flüchtlinge an die Serben, auch jene, die auf dem UN-Gelände Zuflucht gefunden hatten. Nuhanović als Mitarbeiter darf bleiben, seine Familie muss gehen. Er wird sie nie wiedersehen.
Rund 8000 Muslime werden ermordet
In den Stunden darauf trennen die serbischen Soldaten die Männer von den restlichen Flüchtlingen und fahren sie in Bussen aus der Stadt heraus. Rund 8000 Menschen werden in den folgenden Tagen erschossen und verscharrt, ein brutaler Massenmord.
Am 21. Juli 1995 verlassen die niederländischen Soldaten die Stadt Srebrenica, sie wissen noch nichts von den Morden. Zum Abschied trinken Mladić und Karremans gemeinsam Schnaps und lassen sich dabei filmen.
Auch Hasan Nuhanović darf im Konvoi der UN-Truppen bis nach Zagreb mitfahren: "Die Niederländer haben uns gesagt: 'Es ist vorbei, wir haben euch von Srebrenica nach Zagreb mitgenommen. Jetzt müsst ihr den Stützpunkt verlassen. Ihr seid jetzt auf euch alleine gestellt.' Just in dem Moment, als wir ankamen."
In Zagreb kennt Nuhanović niemanden. Tagelang irrt er übers Gelände der Vereinten Nationen und versucht herauszufinden, was mit seiner Familie geschah. Zu diesem Zeitpunkt kursieren nur Gerüchte über die Massaker.
Die Suche nach den Vermissten beginnt
"Von dem Tag an habe ich von den Vereinten Nationen verlangt, nach den Vermissten von Srebrenica zu suchen", erzählt er. "Ich lief von einem Büro zum nächsten, ich lief zum Internationalen Roten Kreuz, ich lief überall hin, um den Leuten zu erzählen, was in Srebrenica geschehen war und dass mehrere Tausend Menschen vermisst sind. Niemandem von den Leuten in Zagreb war bewusst, dass die niederländischen Truppen all diese Menschen an die Serben übergeben hatten."
Als ihm niemand helfen kann, beschließt er wieder zurück nach Bosnien zu gehen und sich selbst auf die Suche zu machen. Noch einmal heuert er als Dolmetscher bei den Vereinten Nationen an, nur so kann er unbehelligt serbische Gebiete betreten.
Während er für die UN übersetzt, befragt er nebenher Zeugen, sichtet Dokumente, sucht die Massengräber und findet nach und nach heraus, was in Srebrenica geschah. Immer mehr bekommt er das Gefühl: Die Niederländer hätten das Morden verhindern können.
Nur ein Jahr nach Kriegsende beginnt in Den Haag ein historischer Prozess um die Kriegsverbrechen im Bosnienkrieg. Auch der Niederländer Thomas Karremans muss vor Gericht aussagen – festgehalten auf Film.
- "Are you a member of the Dutch Military?"
"I am member of the Dutch military."
- "Did you participate in the UN-Peacekeeping operations in Bosnia and Herzegowina?"
"I did so."
- "Where were you assigned in Bosnia and Herzegowina?"
"I was assigned in Bosnia and Herzegowina last year from January to July in Srebrenica."
"I am member of the Dutch military."
- "Did you participate in the UN-Peacekeeping operations in Bosnia and Herzegowina?"
"I did so."
- "Where were you assigned in Bosnia and Herzegowina?"
"I was assigned in Bosnia and Herzegowina last year from January to July in Srebrenica."
In den Niederlanden wurde Karremans für seine Verdienste in Bosnien ausgezeichnet, vor Gericht zeigt Karremans keine Gefühle. Er sagt, er sei sich keiner Schuld bewusst, er habe nichts für die Flüchtlinge in Srebrenica tun können.
Leugnung der Niederländer ist wie ein Schlag ins Gesicht
Als Nuhanović sieht, wie Karremans jegliche Schuld von sich weist, empfindet er das als Schlag ins Gesicht. Er glaubt, Karremans lügt – und er habe schon damals in Srebrenica seine eigene Regierung angelogen, als er behauptete: Es gebe in Srebrenica vor allem Frauen und Kinder und kaum Männer.
"Am 12. Juli rief der Premierminister aus Den Haag Karremans per Telefon an und fragte ihn: Sag uns sofort, wie viele Männer befinden sich auf dem Stützpunkt? Er antworte: Nur wenige. Und das war eine Lüge", sagt Nuhanović. "Er hat mit Absicht gelogen. Selbst das Büro des Premierministers sollte nicht wissen, dass es diese Männer in Potočari gegeben hatte, weil er glaubte: Sonst würde ihm Den Haag den Auftrag geben, etwas wegen dieser Männer zu unternehmen."
Nuhanović glaubt, Karremans habe große Angst vor den Serben gehabt und deshalb nichts unternommen. Von Anfang an sei versucht worden, zu vertuschen was in Srebrenica geschah. Im Jahr 2002 geht Nuhanović deshalb einen ungewöhnlichen Schritt: Er verklagt den niederländischen Staat.
"Mir wurde klar, dass sie niemals zugeben werden, was sie getan haben", sagt er. "Sie werden es nur zugeben, wenn ich sie vors Gericht bringe. Die Holländer wollten alles vertuschen. Deshalb habe ich beschlossen: Ich gehe vors Gericht und beweise ihre Schuld."
Nuhanovic gewinnt den Prozess
Elf Jahre lang dauert der Prozess. Schließlich bekommt Nuhanović Recht. Das Gericht urteilt: Die Niederländer hätten die Flüchtlinge auf dem UN-Gelände nicht ausliefern dürfen. Den Reportern sagt Nuhanović damals, dass er überrascht ist von seinem Sieg.
- "So it is a surprise for you I guess?"
"This case? It is, it really is. Cause I had negative experiences in the past. So it is really a positive turn, you know."
"This case? It is, it really is. Cause I had negative experiences in the past. So it is really a positive turn, you know."
Heute lebt Nuhanović in Sarajevo. Erst vor kurzem hat er seine Promotion über Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges verteidigt. Noch immer kämpft er darum, die Ereignisse in Srebrenica nicht vergessen zu lassen. Er hat zwei Bücher über Srebrenica geschrieben und führt Journalisten durch die Gedenkstätte, die nun auf dem ehemaligen Gelände der Vereinten Nationen steht.
Nuhanovic wollte Gerechtigkeit – und ist enttäuscht
Fast sieben Jahre ist es nun schon her, dass er als Sieger aus dem Gerichtssaal ging. Nuhanović sagt: Er habe damals gehofft, mit der Anklage etwas anzustoßen. Die Welt etwas gerechter zu machen. Doch seitdem sei wenig passiert. Und das schmerzt ihn.
"Wir waren jung und enthusiastisch damals – und das war einer der Gründe, warum wir den Prozess angefangen haben", erinnert er sich. "Aber das war bloß der Anfang und es hat uns elf Jahre gekostet. Selbst der mutmaßliche Mörder meiner Mutter arbeitet noch im selben Gebäude wie ich. Ich habe ihn vor Gericht gebracht und ihn angeklagt, aber nichts ist passiert."