Völlerei

Von Susanne Mack |
Eine Mahlzeit kann ein Genuss sein. Zur Völlerei wird sie, wenn man ständig etwas im Mund haben und kauen muss, sagt der Psychologe Heiko Ernst: zum Beispiel Popcorn im Kino, Eis in der Fußgängerzone, gesalzene Erdnüsse in der Kneipe.
Blödelzeit mit Evelyn Hamann:

"Nilpferd in Burgunder: Nilpferd waschen und trocknen, in passendem Schmortopf mit 2000 Litern Burgunder, sechs bis acht Zwiebeln, zwei kleinen Mohrrüben und einigen Nelken acht bis 14 Tage kochen. Abtropfen lassen - und mit Petersilie servieren!"

"Genießen gehört zum Status, es ist ein Statussymbol: genießen können. Und wir haben ja im Fernsehen die Invasion der Fernsehköche, die uns immer wieder neu vorführen, was man noch alles an Gaumenkitzeln erschaffen kann. - Und es ist ja auch in Ordnung, zu genießen … "

… sagt der Psychologe Heiko Ernst.

"Wir sollen essen. Wir sollen auch uns freuen, dass wir keinen Mangel mehr leiden, dass wir also buchstäblich in einem Schlaraffenland inzwischen leben, in dem es in jeder Ecke auch was zu Essen gibt. Und es riecht in den Fußgängerzonen ja auch unablässig nach Essen. Da ist ein Imbissstand nach dem anderen, alle Varianten von Süßem und Deftigem."

"Aber die Völlerei, die erkennen wir dann daran, dass dieser orale Wunsch, also ständig auch was im Mund zu haben und was zu kauen: im Kino das Popcorn, und wenn man Leute in der Fußgängerzone sieht, dann haben sie ja auch oft immer was in der Hand und versuchen, sich nicht vollzukleckern."

"Also, diese Fresserei: Das ist eigentlich so das, was entgleist ist. Und was uns zurückwirft auf diese uralte Todsünde der Völlerei, nämlich des maßlosen Essens."

Angelika Mann/ Reinhard Lakomy:

Sie: "Ich esse für mein Leben gern!"
Er: "Man sieht es dir auch an."
Sie: "Zum Singen braucht man sehr viel Kraft!"
Er: "Da ist was Wahres dran.
Doch wenn ich Dich so anseh',
dann merk' ich mit Verdruss,
du singst viel weniger als du isst,
daher der Überschuss!"

"Psychologen sagen uns ja, wer zuviel isst, der fühlt irgendeine innere Leere oder hat irgendwelche anderen Probleme. - Und wir alle kämpfen ja auch, die meisten jedenfalls von uns kämpfen, mit den Pfunden. Wir essen alle zuviel. Wir haben zu wenig Selbstkontrolle inzwischen, was das Essen betrifft. Auch deshalb, weil wir ständig verführt werden."

"Völlerei ist ja zunächst einmal im Mittelalter diese Todsünde gewesen des sich sinnlosen Vollhauens mit Nahrungsmitteln. Oder auch das sinnlose Besaufen, das gilt als Sünde: Komasaufen … "

… sagt Pater Hermann-Joseph Zoche.

"Wer die Kontrolle beim Essen schon verliert, wer sich nicht beherrschen kann bei Tisch, der kann es in allen anderen Dingen auch nicht. Das war die Theorie dahinter. Das heißt, die Völlerei ist das Einfallstor des Teufels. Er hat da 'ne Schwachstelle entdeckt. Die Selbstkontrolle ist da schon mal gelockert, und dann wird sie auch bei anderen wichtigeren Dingen als beim Essen ebenfalls zu lockern sein."

Heiko Ernst. – "Peccatum poena peccati", schreibt Kirchenvater Augustinus: "Die Sünde ist die Strafe der Sünde".

"Eigentlich: Wir bestrafen uns selber. Wir müssen gar nicht warten, bis wir dann irgendwo im großen Gericht bestraft werden, sondern wir schaden uns schon auf Erden selber. Die exzessiven Sünden, Verhaltensweisen haben sofort, oder auch etwas später, ihre Strafe, ziehen ihre Strafe nach sich. Und bei der Völlerei ist es oft sehr leicht sichtbar: Man ist einfach fett oder dick oder ungesund oder hat hohen Blutdruck oder sonst irgendeine essensbezogene Krankheit, Stoffwechselkrankheit und so weiter. - Also, man kann sich schon ganz schön selbst bestrafen."

Zoche: "Aber es gibt ja heute auch andere Formen, wie man bis zum Überdruss sich Dinge in sich hineinstopft. - Mir hat neulich ein Freund gesagt, er hätte Koma-Shopping gemacht mit seiner Frau. Das ist also tatsächlich sozusagen das witzige Pendant, statt Komasaufen, wo man die physische Völlerei praktiziert, gibt's das eben auch in einem übertragenen Sinne. Dass man völlig sinnlos kauft, konsumiert."

Ernst: "Ja, das ist im höheren Sinne Völlerei, also ein süchtiges Verhalten. Das heißt, möglichst viel mitzunehmen. Das hat natürlich zu tun mit der Säkularisierung unserer Gesellschaft. Wenn der Glaube an ein Jenseits schwindet, wo vielleicht sogar ausgleichende Gerechtigkeit sein wird, dann muss ich in diesem Leben so viel wie möglich mitnehmen und ausschöpfen und erleben."

"Aaah … musst Du Dir gönnen!"

"Mmmh … musst Du unbedingt probiert haben!"

Zoche: "Wir werden von allen möglichen Seiten immer wieder dazu gedrängt, zu konsumieren: Die Bücher, die Du gelesen haben musst. Die Orte, die Du besucht haben musst. Die Wanderwege, die gegangen sein musst. Die Kirche war ja da auch nicht ganz ohne. Die hat dann auch gesagt, im Mittelalter: Wenn man schon in Rom ist, die sieben Kirchen, die man besucht haben muss. So wird ständig dieser Druck aufgebaut: Erlebe was, mach' was, nimm' mit, was sich bietet. - Unter diesem ständigen Anhäufen von Erlebnissen bleibt gar kein Raum mehr, um aus diesen Erlebnissen Erfahrungen werden zu lassen."

Ernst: "Das ist genau diese Unfähigkeit, sich im eigenen Interesse selbst zu beschränken. Auf das Wenige. Und das richtig zu machen. Dieses permanente Hüpfen, Zappen, alles Mitnehmen - das ist eine moderne Sucht."

Reinhard Lakomy / Angelika Mann:

"Mir doch egal! Mir doch egal! Wenn’s schmeckt, schlagen wir zu!
Mir doch egal! Mir doch egal! - Warum ängstlich sein?
Wenn’s schmeckt, wenn’s schmeckt, fliegt immer noch was rein!
Wenn’s schmeckt, wenn’s schmeckt, fliegt immer noch was rein!"

Ernst: "Es geht immer um die Willenskraft. Bei allen Todsünden haben wir's ja mit Impulsen zutun. Und die Willenskraft ist das einzige, was zwischen uns und diesem Impuls steht. Dass man sagt: 'Nein! Ich will es nicht, ich kontrolliere das!' - Also Selbstkontrolle, Willenskraft. Darum geht es heute eigentlich."

Aber Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung, sprich: Die Herrschaft der Vernunft über die brodelnden Triebe ist nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Denn ein großer Teil des menschlichen Gehirns, unser Stammhirn und das limbische System, funktionieren kaum anders als das unserer tierischen Vorfahren, hier werden laufend Gefühle und heftige Gelüste produziert. Darum erliegen wir so leicht den Einflüsterungen der allgegenwärtigen Werbung:

Ernst: "'Du darfst! Lass' alles raus! Du kannst das haben, Du brauchst Dich nicht zu kontrollieren! Du sollst essen, Du sollst zornig sein, Du sollst Habgier haben, Du sollst alles haben wollen!' - Und jetzt kommt's eben drauf an, das zu konterkarieren und zu erkennen: 'Doch. Wir müssen unsere Impulse kontrollieren. Um unserer selbst willen. Nicht, weil wir anderen schaden oder sündig sind oder vielleicht in die Hölle kommen, daran glauben sowieso noch die wenigsten heute, sondern weil wir uns selber schaden.'"

Zoche: "Ich glaube, dass es auch kein Zufall ist, dass wir in den letzten Jahren eine besondere Vorliebe für die Langsamkeit haben. Man denke nur an Nadolny und sein erfolgreiches Buch, wo vieles um die Entdeckung der Langsamkeit geht … "

… und um die Entdeckung der Abstinenz.

"Ein Jahr ohne …

Einkäufe.
Auto.
Flugreisen.
Fernseher.
Alkohol.
Gentechnik."


Über Foren im Internet finden sich immer mehr Menschen zusammen, die der allgemeinen Völlerei überdrüssig geworden sind. – "The Compact" zum Beispiel ist eine weltweite Initiative von Konsum-Verweigerern, die 2005 in San Francisco geboren wurde. Ihre Grundideen: Vereinfachung des Lebens, Schutz der Natur, Recycling, Tausch von Gebrauchtwaren.

"Wir hatten so etwas wie einen Konsum-Kater … "

… bekennt John Perry, einer der Gründungsmitglieder von "The Compact".

"An alle Begierden soll man die Frage stellen:
Was wird mir geschehen, nachdem die Begierde erfüllt ist
und was, nachdem ich mich der Begierde verweigert habe … "


… schreibt der griechische Philosoph Epikur. Ein Mann, der vollends überzeugt gewesen ist, dass Völlerei "stumpf - sinnig" macht, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur wer bewusst verzichten kann, ist auch im Stande, zu genießen.