Vogelkunde und Geschichte
Der "neue große Roman von deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts", so kündigt der Suhrkamp Verlag Marcel Beyers "Kaltenburg" an, handelt - und das ist vielleicht die große Überraschung oder der geniale Coup des Autors - in erster Linie von Vögeln und zwei Männern, die es als Ornithologen mit Amsel, Drossel, Fink und Star zu tun haben.
In Beyers Roman ist der Himmel voller Vögel. Manchmal fallen sie aber auch aus den Wolken und andere landen auf dem Seziertisch des Instituts, wo sie fachmännisch präpariert werden.
Eine Episode am Anfang des Buches handelt vom Mauersegler, dem man bis heute nachsagt, er würde keine Füße haben, weil man ihn immer in der Luft und nie auf einem Ast gesehen hat. Deshalb hielt sich lange die Legende, der Mauersegler käme direkt vom Mond.
Dass der Mauersegler wie jeder andere Vogel Beine besitzt, dass sieht der Ich-Erzähler in Beyers Roman, als er ein Exemplar im Todeskampf beobachtet. Diese Beobachtung könnte in Hermann Funk - den Namen des Ich-Erzählers erfahren wir erst gegen Ende des Romans - den Wunsch geweckt haben, Ornithologe zu werden.
Beyers Buch handelt von seltsamen Vögeln. Funk wird Ornithologe und arbeitet später als Assistent bei einem schrägen, sehr bunten Vogel, wie ihn Dresden, wo der Roman spielt, nicht alle Tage gesehen hat. Ludwig Kaltenburg heißt dieser international anerkannte Vogelkundler. Noch als Kind begegnet Hermann Funk dem Freund der Familie seiner Eltern 1942 in Posen. Ein weiteres Mal sieht er ihn im elterlichen Haus, als Kaltenburg einen Star abholt, weil Funks Vater, ein Botaniker, nicht weiß, wie man ihn füttern muss. Dabei wird er Zeuge eines Gesprächs zwischen seinem Vater und Kaltenburg, das Beyer nur andeutet. Erst spät klärt er auf, was die beiden Männer besprochen haben.
Marcel Beyer reiht Geschichten aneinander, in denen häufig von Vögeln die Rede ist. Eine handelt von der Schreckmauser. Turteltauben stoßen, wenn sie einen Schuss hören, einen Teil des Federkleides ab, als hätte die Kugel ihnen gegolten.
Von einer Dresdner Episode ist die Rede, die in der Nacht im Februar beobachtet wurde, als die Stadt an der Elbe im Bombenhagel unterging. Damals hat ein Kind im Großen Garten eine Gruppe verstörter Menschen gesehen, unter die sich eine Gruppe von Schimpansen und Orang-Utans gemischt hatte. Als die Menschen aus ihrer Apathie erwachen und zunächst "ratsuchend" beginnen, die Toten am Boden zu betrachten, um sie später auf einem Rasenstreifen aufzubahren, schließen sich ihnen die Affen nach und nach an. Kaltenbug beobachtet auch deshalb so intensiv die Tiere, weil er etwas über die Menschen in Erfahrung bringen will.
Lautlos, als würde ein Nachtvogel durch die Abenddämmerung gleiten, sind in Beyers Zoologie die Katastrophen des 20. Jahrhunderts aufgehoben. Beyer unterlegt dem Vogelgesang aber auch die schrillen Töne dieser Epoche, indem er Biographien auffliegen lässt. Die beiden Protagonisten sehnen sich nach Stille, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Aber sie werden immer wieder gestört. Die Bombardierung Dresdens, Stalins Tod, die Verhaftung Paul Merkers in der DDR, der Ungarn-Aufstand sind Ereignisse, die sie in Aufregung versetzen. Gut sind die Protagonisten in dem Nest, das die Geschichte ihnen gebaut hat, nicht aufgehoben.
Marcel Beyer vermisst die Welt, indem er sich um die Bewohner der Lüfte ebenso kümmert wie um die Niederungen der Geschichte. Das Buch ist ein wahrlich kühner Versuch und der Autor ein Glücksfall für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.
Rezensiert von Michael Opitz
Marcel Beyer: Kaltenburg
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
395 Seiten. 19,80 Euro
Eine Episode am Anfang des Buches handelt vom Mauersegler, dem man bis heute nachsagt, er würde keine Füße haben, weil man ihn immer in der Luft und nie auf einem Ast gesehen hat. Deshalb hielt sich lange die Legende, der Mauersegler käme direkt vom Mond.
Dass der Mauersegler wie jeder andere Vogel Beine besitzt, dass sieht der Ich-Erzähler in Beyers Roman, als er ein Exemplar im Todeskampf beobachtet. Diese Beobachtung könnte in Hermann Funk - den Namen des Ich-Erzählers erfahren wir erst gegen Ende des Romans - den Wunsch geweckt haben, Ornithologe zu werden.
Beyers Buch handelt von seltsamen Vögeln. Funk wird Ornithologe und arbeitet später als Assistent bei einem schrägen, sehr bunten Vogel, wie ihn Dresden, wo der Roman spielt, nicht alle Tage gesehen hat. Ludwig Kaltenburg heißt dieser international anerkannte Vogelkundler. Noch als Kind begegnet Hermann Funk dem Freund der Familie seiner Eltern 1942 in Posen. Ein weiteres Mal sieht er ihn im elterlichen Haus, als Kaltenburg einen Star abholt, weil Funks Vater, ein Botaniker, nicht weiß, wie man ihn füttern muss. Dabei wird er Zeuge eines Gesprächs zwischen seinem Vater und Kaltenburg, das Beyer nur andeutet. Erst spät klärt er auf, was die beiden Männer besprochen haben.
Marcel Beyer reiht Geschichten aneinander, in denen häufig von Vögeln die Rede ist. Eine handelt von der Schreckmauser. Turteltauben stoßen, wenn sie einen Schuss hören, einen Teil des Federkleides ab, als hätte die Kugel ihnen gegolten.
Von einer Dresdner Episode ist die Rede, die in der Nacht im Februar beobachtet wurde, als die Stadt an der Elbe im Bombenhagel unterging. Damals hat ein Kind im Großen Garten eine Gruppe verstörter Menschen gesehen, unter die sich eine Gruppe von Schimpansen und Orang-Utans gemischt hatte. Als die Menschen aus ihrer Apathie erwachen und zunächst "ratsuchend" beginnen, die Toten am Boden zu betrachten, um sie später auf einem Rasenstreifen aufzubahren, schließen sich ihnen die Affen nach und nach an. Kaltenbug beobachtet auch deshalb so intensiv die Tiere, weil er etwas über die Menschen in Erfahrung bringen will.
Lautlos, als würde ein Nachtvogel durch die Abenddämmerung gleiten, sind in Beyers Zoologie die Katastrophen des 20. Jahrhunderts aufgehoben. Beyer unterlegt dem Vogelgesang aber auch die schrillen Töne dieser Epoche, indem er Biographien auffliegen lässt. Die beiden Protagonisten sehnen sich nach Stille, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Aber sie werden immer wieder gestört. Die Bombardierung Dresdens, Stalins Tod, die Verhaftung Paul Merkers in der DDR, der Ungarn-Aufstand sind Ereignisse, die sie in Aufregung versetzen. Gut sind die Protagonisten in dem Nest, das die Geschichte ihnen gebaut hat, nicht aufgehoben.
Marcel Beyer vermisst die Welt, indem er sich um die Bewohner der Lüfte ebenso kümmert wie um die Niederungen der Geschichte. Das Buch ist ein wahrlich kühner Versuch und der Autor ein Glücksfall für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.
Rezensiert von Michael Opitz
Marcel Beyer: Kaltenburg
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
395 Seiten. 19,80 Euro