Vogelperspektive auf die Bundesrepublik
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler trug in den sechziger Jahren maßgeblich zur Modernisierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft bei, indem er die historische Sozialwissenschaft etablierte. Die von ihm geschriebene "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" gehört schon zu den Klassikern der Wissenschaftsliteratur. Nun erscheint der fünfte und letzte Band des Werks.
Jürgen König: Heute erscheint Band 5 der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler, der Abschlussband: "Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 bis 1990". Hans-Ulrich Wehler trug in den sechziger Jahren maßgeblich zur Modernisierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft bei, indem er Geschichte als historische Sozialwissenschaft etablierte. Und somit ist diese fünfbändige "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" schon so etwas wie eine, ja, sagen wir ruhig, Leistungsschau der historischen Sozialwissenschaftler.
Herr Wehler, seien Sie gegrüßt und beginnen wir nicht gleich mit den Protesten, die DDR sei zu kümmerlich behandelt worden, sondern mit der Bundesrepublik, die den Schwerpunkt Ihres Buches bildet. Alles zusammengenommen: Ist die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Entwicklung der Bundesrepublik nach 1949 eine Erfolgsgeschichte?
Hans-Ulrich Wehler: Ja, ich habe das ja unbedingt bejaht. Wenn man sich vergegenwärtigt, was das für ein Land war 1949, zerbombt, Millionen Tote, fast ein Dutzend Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf dem Weg oder bald auf dem Weg, dann ist diese erstaunliche Erholung innerhalb weniger Jahre und für jedermann zu besichtigen seit den frühen fünfziger Jahren sozusagen ein verblüffendes Ereignis.
Das Zweite ist, dass es den Westdeutschen gelungen ist, ein politisches System und eine gesellschaftliche Verfassung aufzubauen für ein Gemeinwesen, in dem sich menschenwürdig leben ließ. Das haben zum Beispiel viele alliierte Besatzungsoffiziere nach dem Krieg überhaupt nicht erwartet. Sie haben geglaubt, es kommt erst mal eine dreißigjährige Krisenperiode, bis das Gift aus den Köpfen raus ist und wenn die Älteren weg sind, dann kommt diese verseuchte HJ-Generation.
Also, wenn man das etwas aus der Vogelperspektive sieht, ist das aufs Ganze gesehen eine verblüffende Erfolgsgeschichte.
König: Andererseits beschreiben Sie ja sehr kritisch die Entwicklung der Bundesrepublik, zum Beispiel hinsichtlich der sozialen Mobilität. Sie sagen, die Barrieren, die soziale Mobilität verhindert haben, diese Barrieren seien erstaunlich hoch gewesen.
Sie beschreiben die große und immer noch wachsende Exklusivität der Eliten, die relative Wirkungslosigkeit der Bildungsreformen. Verdeckt der wirtschaftliche Erfolg, wie Sie ihn eben auch beschrieben haben, vielleicht, dass die Bundesrepublik eine sozial sehr immobile Gesellschaft ist?
Wehler: Also, bei diesem ganzen Projekt der Gesellschaftsgeschichte geht es immer darum, abzuwägen, wo kann man Diskontinuität im historischen Prozess beobachten, zum Beispiel die Diktatur Hitlers, die Wirkung des totalen Krieges und der schlimmen Nachkriegszeit. Und wo laufen Kontinuitätslinien aber trotz der Diskontinuität weiter.
Und im Bereich der sozialen Ungleichheit, da gibt es nun in der Tat eine Kontinuität, die in mancher Hinsicht verblüffend ist. Das läuft sozusagen kontinuierlich weiter in der Entwicklungsgeschichte des Wirtschaftsbürgertums, des früheren Bildungsbürgertums, das sich allmählich verwandelt in eine akademische Intelligenz, aber es bleiben auch als Kontinuität erhalten die Barrieren und Schranken.
Natürlich gibt es insgesamt, das habe ich ja sehr betont, mit diesem Ausdruck des Fahrstuhleffekts ein Anheben im Wohlstandsniveau der gesamten Gesellschaft und es gibt auch eine gewisse Mobilität dann zwischen den überkommenden Klassen. Aber aufs Ganze gesehen bleibt zum Beispiel die Verteilung von Eigentum und Vermögen erstaunlich stabil.
Die Sozialstatistiker teilen ja die Gesellschaft gerne in Fünftel ein und das obere Fünftel bekommt also einen riesen Batzen, die Hälfte von Einkommen und noch mehr von Vermögen. 1,7 Prozent der westdeutschen Haushalte kontrollieren 74 Prozent des Produktivvermögens und im unteren Drittel bleibt es über 50 Jahre hinweg ein erstaunlich geringer Anteil. Die Eliten rekrutieren sich weithin aus dem gehobenen Bürgertum.
Also, man muss diese sozusagen Immobilität auch in der Gesellschaft trotz des äußeren Anscheins eines rapiden Wandels betonen, denn ich breche zwar 1990 ab, aber diese Disparitäten in der Gesellschaft, dieses Auseinanderklaffen, diese Verlagerung von Einkommen und Vermögen nach oben, während es unten stagniert oder schrumpft, das hat sich ja in den 18 Jahren seither noch viel schärfer ausgeprägt. Insofern liefere ich dafür die Vorgeschichte.
König: Sie bringen das auf die Formel, soziale Gleichheit sei eine Fata Morgana, was eigentlich nichts anderes heißen kann, als: Oben bleibt oben, unten bleibt unten, die Situation für Angehörige der unteren Schicht ist hoffnungslos. Welcher soziale, welcher politische Sprengstoff liegt in dieser Situation? Anders gefragt: Wie stabil ist der soziale Frieden in unserem Land tatsächlich?
Wehler: Also, es ist keine völlig erstarrte soziale Pyramide, die wir da in der Bundesrepublik vor uns haben. Es gibt Aufstieg, aber wenn man den sozusagen zu sehr betont als aufstiegsorientierte Leistungsgesellschaft, dann muss man sich klarmachen, dass 80 Prozent der Facharbeiterkinder wieder Facharbeiter werden, dass auf der anderen Seite 40 Prozent der Juristen- und Medizinerkinder wieder in die Berufe der Eltern gehen.
Manchmal handelt es sich auch um eine kulturelle Hemmschwelle in den Köpfen der Menschen. Man gibt eben als Bauarbeiter ungern den Sohn frei für das Gymnasium und allemal nicht die Tochter. Aber das grundsätzliche, prinzipielle Problem ist, dass die erfolgreiche Marktwirtschaft sozusagen die Gesellschaft mit ihrem Wohlstandsniveau nach oben befördert, sozusagen jedenfalls die große Mehrheit, dass sie aber gleichzeitig auch bei der Verteilung des erarbeiteten Gewinns Ungleichheit erzeugt.
Und der Markt ist eine bewundernswerte ingeniöse Erfindung, aber er ist nicht im Stande, von sich aus Ungleichheit zu korrigieren. Das muss der Staat. Und der Staat kann es durch unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten, durch Steuerpolitik, durch Bildungspolitik und so weiter. Wenn man die dann aber überprüft, dann stellt man fest, wie ungeheuer schwierig es ist, diese Korrekturen vorzunehmen.
Also, wenn ich an die euphorischen Hoffnungen denke, die meine Generation jedenfalls seit den sechziger Jahren mit der Bildungsreform und dem Ausbau des Bildungssystems verbunden hat, dann muss man am Ende konstatieren, ja gut, wir haben jetzt anstatt, wie in meiner Zeit 200.000 Studenten 1,5 Millionen, aber der Anteil von Arbeiterkinder schrumpft in den letzten Jahren und kommt einfach nicht über sechs Prozent hinaus.
Und da glaube ich, wenn sich solche Ungleichheitsverhältnisse wirklich tief einfressen oder wenn die Aktivität eines liberaldemokratischen Staates nachlässt, Ungleichheit sozusagen zu bekämpfen, dann kann man an eine Gefahrenschwelle herankommen, die noch nicht erreicht ist, wie ich glaube, an der aber die Legitimationsgrundlage eines demokratischen Gemeinwesens durch zu große Unterschiede zwischen den großen sozialen Verbänden in Frage gestellt wird.
König: Das heißt, wir bekommen dann ein demokratisches Legitimationsproblem, wenn sich herumspricht, sagen wir mal, dass das Versprechen, in einer freien Gesellschaft habe grundsätzlich jeder die Chance, etwas zu werden, wenn dieses Versprechen gar nicht eingehalten werden kann.
Wehler: Ja, das halte ich für ein sozial-psychisches, ein mentales und dann aber auch sehr schnell für ein politisches Problem. Wenn wir sozusagen jetzt uns in der unmittelbaren Gegenwart bewegen, dann rumort es in dieser Hinsicht, was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und sozusagen versperrten Aufstiegschancen angeht, ungleich stärker, als ich das sozusagen noch in den achtziger Jahren verfolgt habe. Also, das ist kein erfundenes Problem, sondern eines, was sich, nach meinem Eindruck, in naher Zukunft zuspitzen würde.
König: Sie haben das Stichwort Bildungsreform schon angesprochen. Auch die Kinder aus den unteren gesellschaftlichen Schichten sollen durch Bildung aufstiegsfähig gemacht werden, das ist ja der Anspruch. Wie sieht Ihre Bilanz der Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre in dieser Hinsicht aus?
Wehler: Also, ich bin gleich nach dem Abitur in Amerika gewesen und habe dort kennengelernt, wie Massenuniversitäten junge Leute hoch schleusen. Und wenn man hier bei uns zum Beispiel sagt, Studiengebühren verhinderten den Zustrom von Arbeiterkindern, dann kann ich nur sagen, in Harvard und Princeton und Stanford und wo ich sonst war, da gibt es einen so hohen Prozentsatz von Arbeiterkindern, da löst man die materiellen Probleme durch ein großzügiges Stipendienwesen.
Insgesamt finde ich die Bildungsreform schon imponierend. Also, als ich nach Bielefeld ging 1971, da baute der damalige Wissenschaftsminister Rau, der spätere Bundespräsident, ein Dutzend Universitäten und technische Hochschulen und sein Wunsch war, als er das erste Mal nach Bielefeld kam: "Geht bitte nicht mit den Kosten über eine Milliarde. Ich habe zu viele Projekte laufen." Wenn man sich überlegt, wie heutzutage die Exzellenzinitiative mit wenigen Milliarden der Illusion nachjagt, man könnte deutsche Staatsuniversitäten in kurzer Zeit auf das Niveau von Harvard heben, was ein Jahresetat von fünf Milliarden Dollar hat, allein, als eine Universität, dann sieht man, wie doch damals, das bleibt auch ein Ehrenblatt der Sozialdemokratie, die Bildungsreform institutionell vorangetrieben worden ist, denn wenn man nur auf Nordrhein-Westfalen blickt, kann man ja nicht anders, als zu konstatieren, dass Bochum und Düsseldorf und Bielefeld und all diese neuen Universitäten sich aufs Ganze gesehen bewehrt haben als Reformuniversitäten.
Dann ist zweitens natürlich inzwischen die Gesamtschule gescheitert, aber das Gymnasium ist zu einer modernen städtischen Gesamtschule geworden. In den Städten gehen 65 Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium. Das entspricht übrigens den Wunschvorstellungen der Gymnasiumsgründer zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und das ist eine enorme Veränderung. Wenn man es damit vergleicht, etwa in den fünfziger Jahren, als vier Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium gingen.
Also, das will ich alles anerkennen, ich habe das auch sehr betont, aber diese wirklich ganz euphorische Erwartung, dass man durch Aufstiegsmobilität im höheren Schulwesen, im Universitätswesen insgesamt die Struktur der sozialen Ungleichheit sozusagen zum Besseren verändern könnte ...
König: Das hat nicht geklappt.
Wehler: Nein, da hat sich doch nur mancher Wehrmutstropfen eingestellt und man stellt fest, wie unglaublich schwer das ist, in den Köpfen festsitzende Hemmungen, zum Beispiel in den unteren Klassen, zu überwinden, damit sie die Kinder auf diese Aufstiegsleiter überhaupt gehen lassen.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Professor Hans-Ulrich Wehler, dessen fünfbändige "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" nun vollständig vorliegt. Herr Wehler, der Untertitel dieses neuen und letzten Bandes der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" lautet: "Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 - 1990". Es ist dann aber doch weitestgehend eine Geschichte der Bundesrepublik, der DDR schenken Sie vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Warum?
Wehler: 64 Millionen Deutsche lebten in der Bundesrepublik, 16 Millionen in der DDR. Die DDR ist das einzige europäische Land, was in diesen Jahrzehnten stagniert, ja sogar schrumpft und sozusagen schon von den Größenverhältnissen war da keine sozusagen Gleichbehandlung möglich. Dann ist es zweitens eine Diktatur, die zweite Diktatur auf deutschem Boden, die sozusagen ihren Untergang durch den Protest der eigenen Bevölkerung erlebt hat. Und dann habe ich zuerst die Teile über die Bundesrepublik, die ganz im Mittelpunkt steht, geschrieben und dann jeweils zum Vergleich und zum Kontrast mit sehr pointierten Urteilen, die jetzt von manchen Lesern und Kritikern bestritten werden, die DDR angefügt, weil das sozusagen ein rundum gescheitertes Experiment ist, eine kommunistische Diktatur in Deutschland sozusagen auf Dauer zustellt.
König: Die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron beklagt sich heute in der "FAZ" bitter, Sie würden die DDR nur als eine Fußnote der Geschichte begreifen, würden die DDR nur von ihrem Ende her betrachten. Was antworten Sie Frau Maron?
Wehler: Frau Maron würde ich antworten, dass die Fußnote der Geschichte eine bittere Äußerung von Stefan Heym ist auf einer Berliner Großversammlung. Aber ich billige das Urteil. Aus der Vogelperspektive ist das ein 40-jähriges Intermezzo, was in jeder Hinsicht gescheitert ist: Die Natur weithin zerstört, Millionen Menschen ihrer Lebenschancen beraubt, Hunderte wie Karnickel abgeschossen, Tausende in den Konzentrationslagern, 300.000 allein durch die Stasi-Keller geschleift, ökonomisch völlig gescheitert, in vielen Köpfen der Ideenmüll eines späten Marxismus und Kommunismus.
Also, ich kann sozusagen diese Negativbilanz noch verlängern, das Ergebnis ist dann, wenn man unter dem Gesichtspunkt was sind die entscheidenden Strukturen und Prozesse, die die DDR zum Vergleich heranzieht, dann kann ich nicht sozusagen wie Frau Maron sich das gewünscht hätte, das Innenleben in der DDR mit den anfänglichen Hoffnungen der Gründergeneration gestandener Kommunisten und junger Leute, die wegen der Massenflucht in den fünfziger Jahren auf einmal ganz unerwartet in hohe Positionen aufrückten und dann auch dem Regime ihre Loyalität schuldeten.
Das kann ich nicht so ausführlich schildern, dafür gibt es eine groß angewachsene DDR-Forschung, wo man das im Einzelnen nachlesen kann. Mir geht es dann pointiert darum, was leistet das neue Wirtschaftssystem, was ist mit der Verheißung der sozialen Gleichheit in einer kommunistischen Gesellschaft, wo eine herrschende politische Klasse von, wie ich glaube, rund 550 Kaderkommunisten sozusagen das Land leitet, und so weiter, das sozusagen pointiert herauszuarbeiten und natürlich, da hat Frau Maron recht, sehe ich das vom Ende. Ich beurteile ja auch die Bundesrepublik danach, was sie in 50 Jahren geleistet und aufgebaut hat, sodass sie meines Erachtens zu Recht als deutscher Kernstaat sich dann die Landesteile der verblichenen DDR eingegliedert hat.
König: Herr Wehler, Sie haben in Deutschland in hohem Maße dazu beigetragen, dass sich die historische Sozialwissenschaft in der Geschichtswissenschaft etablieren konnte. Diese jetzt vollständige fünfbändige Gesellschaftsgeschichte soll ja nicht zuletzt zeigen, was das heißt, Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Was hat nach Ihrer Auffassung die historische Sozialwissenschaft geleistet beziehungsweise was kann, was muss sie leisten?
Wehler: Ja, das wäre kokett, wenn ich sie, diese historische Sozialwissenschaft, jetzt lobte, aber wenn Sie sich mal die Situation der fünfziger, sechziger Jahre vergegenwärtigen, als in der deutschen Geschichtswissenschaft ganz im Unterschied zu Frankreich, England, Amerika eine sehr konventionelle Politik oder Ideengeschichte dominierte. Und zum Beispiel die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus und der Machtübernahme, und so weiter, der Etablierung der Diktatur, überhaupt nicht eingehend diskutiert wurde, sondern immer nur der Verfall des politischen Systems und die außenpolitischen Winkelzüge, dann war sozusagen unser Anlauf, einmal nicht Innen- oder Außenpolitik in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Gesellschaft, die Gesellschaft vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts, ein Anlauf, der durchaus einer internationalen Strömung entsprach.
Das verschaffte einem auch so ein gewisses Hochgefühl, dass man mit den besten englischen, französischen, amerikanischen Historikern da sozusagen an denselben Problemen anbiss. Im Einzelnen beruhte das dann darauf, dass wir argumentiert haben, man darf nicht sozusagen immer nur stolz auf die eigene Wissenschaftszunft blicken, sondern man muss bei den anregenden systematischen Nachbarwissenschaften, bei der Soziologie, bei der Ökonomie, bei der Politikwissenschaft sozusagen blicken, was können wir von denen lernen, da sind ja auch Tausende von intelligenten Köpfen engagiert, sowie heute die neuere Kulturgeschichte blickt auf die Kulturanthropologie und auf die Linguistik und die Sprachsoziologie, und so weiter.
König: Man hat aber bei jüngeren Historikern schon den Eindruck, dass sie sich gerne eher der Alltags- und Kulturgeschichte zuwenden.
Wehler: Ja, da ist ein Bruch seit den achtziger Jahren. Das ist ein internationales Phänomen auch, dass sozusagen Kultur aufgewertet wird. Aber im Vergleich hat bisher die neuere Kulturgeschichte vor allem in Deutschland sozusagen von unsereins und von der Politikgeschichte vernachlässigte Phänomene aufgegriffen, also die Rolle von Religion, von Ritualen, von Symbolen, dem Mikrokosmos einer Bergarbeiterstraße oder eines kleinen Bauerndorfes.
Was ganz fehlt, und ich habe auch große Zweifel, ob das bei den konkurrierenden verschiedenen Kulturbegriffen gelingt, ist eine Sinntiefe, sozusagen eine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhunderts zum Beispiel.
König: Zum Schluss, Herr Wehler, noch eine Frage zum Stil: Ich fand ja Ihre Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung ausgesprochen aufschlussreich, fand aber die Lektüre des Buches, zumindest streckenweise, ja, wie soll ich das sagen, anstrengend, wobei, intelligente Bücher dürfen anstrengend sein.
Hier hatte ich aber manchmal den Eindruck, als hätten Sie eine gewisse Angst vor, wie soll ich das sagen, vor der Erzählung, wie es meinetwegen britische Historiker gerne machen. Gibt es so eine Angst vor der Erzählung bei einem sozialwissenschaftlich arbeitenden Historiker?
Wehler: Es ist keine Angst, es sind unterschiedliche Sprachebenen, auf denen man sich bewegt. Also, Sie bezahlen einen Preis dafür, wenn man die Geschichte sozusagen analytisch angeht, wenn man sagt: "Da gibt es eine bestimmte Aufstiegsmobilität, wie kann ich die möglichst genau erfassen?". Manche Leser werden sicher rügen die statistischen Angaben, aber es ist schon wichtig, dass man sagen kann: "Nein, die herrschende Klasse in der DDR, das sind gut 500 und nicht etwa 50.000." Also in der Genauigkeit ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, da kommt es schon auf solche statistischen Angaben an. Aber die Grundentscheidung, sozusagen analytisch an ein Problem heranzugehen, die sperrt sich gegen den Erzählungsduktus.
Nun bewundere ich sehr französische Historiker, also Goubert oder auch Braudel, die können das, am Anfang eines Kapitels über die Landwirtschaft sozusagen ganz anschaulich zu sagen, wie ein einfacher Bauer morgens aufsteht, 15 Stunden arbeitet und was er da alles tun muss. Und nachdem man sozusagen ein anschauliches Bild auf ganz wenigen Seiten gewonnen hat, dann analysieren sie die Größenverhältnisse des Besitzes, die Kapitalversorgung, die Schwierigkeiten auf dem Markt und diese sozusagen eher abstrakten Dinge. Ich kann das nicht.
Also, ich habe mir manchmal vorgestellt, wie man da rangehen könnte. Also, man könnte bei der Behandlung von Bildungsbürgertum den Alltag von Studienräten an einem Gymnasium von Ärzten, Juristen zu skizzieren versuchen, aber dann gibt es auch so einen Sog, der von der analytischen Herangehensweise ausgeht und der verdrängt die Erzählung.
König: Vielen Dank. Die "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler ist vollständig. Heute erscheint im Verlag C. H. Beck Band Fünf, "Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 -1990".
Herr Wehler, seien Sie gegrüßt und beginnen wir nicht gleich mit den Protesten, die DDR sei zu kümmerlich behandelt worden, sondern mit der Bundesrepublik, die den Schwerpunkt Ihres Buches bildet. Alles zusammengenommen: Ist die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Entwicklung der Bundesrepublik nach 1949 eine Erfolgsgeschichte?
Hans-Ulrich Wehler: Ja, ich habe das ja unbedingt bejaht. Wenn man sich vergegenwärtigt, was das für ein Land war 1949, zerbombt, Millionen Tote, fast ein Dutzend Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf dem Weg oder bald auf dem Weg, dann ist diese erstaunliche Erholung innerhalb weniger Jahre und für jedermann zu besichtigen seit den frühen fünfziger Jahren sozusagen ein verblüffendes Ereignis.
Das Zweite ist, dass es den Westdeutschen gelungen ist, ein politisches System und eine gesellschaftliche Verfassung aufzubauen für ein Gemeinwesen, in dem sich menschenwürdig leben ließ. Das haben zum Beispiel viele alliierte Besatzungsoffiziere nach dem Krieg überhaupt nicht erwartet. Sie haben geglaubt, es kommt erst mal eine dreißigjährige Krisenperiode, bis das Gift aus den Köpfen raus ist und wenn die Älteren weg sind, dann kommt diese verseuchte HJ-Generation.
Also, wenn man das etwas aus der Vogelperspektive sieht, ist das aufs Ganze gesehen eine verblüffende Erfolgsgeschichte.
König: Andererseits beschreiben Sie ja sehr kritisch die Entwicklung der Bundesrepublik, zum Beispiel hinsichtlich der sozialen Mobilität. Sie sagen, die Barrieren, die soziale Mobilität verhindert haben, diese Barrieren seien erstaunlich hoch gewesen.
Sie beschreiben die große und immer noch wachsende Exklusivität der Eliten, die relative Wirkungslosigkeit der Bildungsreformen. Verdeckt der wirtschaftliche Erfolg, wie Sie ihn eben auch beschrieben haben, vielleicht, dass die Bundesrepublik eine sozial sehr immobile Gesellschaft ist?
Wehler: Also, bei diesem ganzen Projekt der Gesellschaftsgeschichte geht es immer darum, abzuwägen, wo kann man Diskontinuität im historischen Prozess beobachten, zum Beispiel die Diktatur Hitlers, die Wirkung des totalen Krieges und der schlimmen Nachkriegszeit. Und wo laufen Kontinuitätslinien aber trotz der Diskontinuität weiter.
Und im Bereich der sozialen Ungleichheit, da gibt es nun in der Tat eine Kontinuität, die in mancher Hinsicht verblüffend ist. Das läuft sozusagen kontinuierlich weiter in der Entwicklungsgeschichte des Wirtschaftsbürgertums, des früheren Bildungsbürgertums, das sich allmählich verwandelt in eine akademische Intelligenz, aber es bleiben auch als Kontinuität erhalten die Barrieren und Schranken.
Natürlich gibt es insgesamt, das habe ich ja sehr betont, mit diesem Ausdruck des Fahrstuhleffekts ein Anheben im Wohlstandsniveau der gesamten Gesellschaft und es gibt auch eine gewisse Mobilität dann zwischen den überkommenden Klassen. Aber aufs Ganze gesehen bleibt zum Beispiel die Verteilung von Eigentum und Vermögen erstaunlich stabil.
Die Sozialstatistiker teilen ja die Gesellschaft gerne in Fünftel ein und das obere Fünftel bekommt also einen riesen Batzen, die Hälfte von Einkommen und noch mehr von Vermögen. 1,7 Prozent der westdeutschen Haushalte kontrollieren 74 Prozent des Produktivvermögens und im unteren Drittel bleibt es über 50 Jahre hinweg ein erstaunlich geringer Anteil. Die Eliten rekrutieren sich weithin aus dem gehobenen Bürgertum.
Also, man muss diese sozusagen Immobilität auch in der Gesellschaft trotz des äußeren Anscheins eines rapiden Wandels betonen, denn ich breche zwar 1990 ab, aber diese Disparitäten in der Gesellschaft, dieses Auseinanderklaffen, diese Verlagerung von Einkommen und Vermögen nach oben, während es unten stagniert oder schrumpft, das hat sich ja in den 18 Jahren seither noch viel schärfer ausgeprägt. Insofern liefere ich dafür die Vorgeschichte.
König: Sie bringen das auf die Formel, soziale Gleichheit sei eine Fata Morgana, was eigentlich nichts anderes heißen kann, als: Oben bleibt oben, unten bleibt unten, die Situation für Angehörige der unteren Schicht ist hoffnungslos. Welcher soziale, welcher politische Sprengstoff liegt in dieser Situation? Anders gefragt: Wie stabil ist der soziale Frieden in unserem Land tatsächlich?
Wehler: Also, es ist keine völlig erstarrte soziale Pyramide, die wir da in der Bundesrepublik vor uns haben. Es gibt Aufstieg, aber wenn man den sozusagen zu sehr betont als aufstiegsorientierte Leistungsgesellschaft, dann muss man sich klarmachen, dass 80 Prozent der Facharbeiterkinder wieder Facharbeiter werden, dass auf der anderen Seite 40 Prozent der Juristen- und Medizinerkinder wieder in die Berufe der Eltern gehen.
Manchmal handelt es sich auch um eine kulturelle Hemmschwelle in den Köpfen der Menschen. Man gibt eben als Bauarbeiter ungern den Sohn frei für das Gymnasium und allemal nicht die Tochter. Aber das grundsätzliche, prinzipielle Problem ist, dass die erfolgreiche Marktwirtschaft sozusagen die Gesellschaft mit ihrem Wohlstandsniveau nach oben befördert, sozusagen jedenfalls die große Mehrheit, dass sie aber gleichzeitig auch bei der Verteilung des erarbeiteten Gewinns Ungleichheit erzeugt.
Und der Markt ist eine bewundernswerte ingeniöse Erfindung, aber er ist nicht im Stande, von sich aus Ungleichheit zu korrigieren. Das muss der Staat. Und der Staat kann es durch unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten, durch Steuerpolitik, durch Bildungspolitik und so weiter. Wenn man die dann aber überprüft, dann stellt man fest, wie ungeheuer schwierig es ist, diese Korrekturen vorzunehmen.
Also, wenn ich an die euphorischen Hoffnungen denke, die meine Generation jedenfalls seit den sechziger Jahren mit der Bildungsreform und dem Ausbau des Bildungssystems verbunden hat, dann muss man am Ende konstatieren, ja gut, wir haben jetzt anstatt, wie in meiner Zeit 200.000 Studenten 1,5 Millionen, aber der Anteil von Arbeiterkinder schrumpft in den letzten Jahren und kommt einfach nicht über sechs Prozent hinaus.
Und da glaube ich, wenn sich solche Ungleichheitsverhältnisse wirklich tief einfressen oder wenn die Aktivität eines liberaldemokratischen Staates nachlässt, Ungleichheit sozusagen zu bekämpfen, dann kann man an eine Gefahrenschwelle herankommen, die noch nicht erreicht ist, wie ich glaube, an der aber die Legitimationsgrundlage eines demokratischen Gemeinwesens durch zu große Unterschiede zwischen den großen sozialen Verbänden in Frage gestellt wird.
König: Das heißt, wir bekommen dann ein demokratisches Legitimationsproblem, wenn sich herumspricht, sagen wir mal, dass das Versprechen, in einer freien Gesellschaft habe grundsätzlich jeder die Chance, etwas zu werden, wenn dieses Versprechen gar nicht eingehalten werden kann.
Wehler: Ja, das halte ich für ein sozial-psychisches, ein mentales und dann aber auch sehr schnell für ein politisches Problem. Wenn wir sozusagen jetzt uns in der unmittelbaren Gegenwart bewegen, dann rumort es in dieser Hinsicht, was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und sozusagen versperrten Aufstiegschancen angeht, ungleich stärker, als ich das sozusagen noch in den achtziger Jahren verfolgt habe. Also, das ist kein erfundenes Problem, sondern eines, was sich, nach meinem Eindruck, in naher Zukunft zuspitzen würde.
König: Sie haben das Stichwort Bildungsreform schon angesprochen. Auch die Kinder aus den unteren gesellschaftlichen Schichten sollen durch Bildung aufstiegsfähig gemacht werden, das ist ja der Anspruch. Wie sieht Ihre Bilanz der Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre in dieser Hinsicht aus?
Wehler: Also, ich bin gleich nach dem Abitur in Amerika gewesen und habe dort kennengelernt, wie Massenuniversitäten junge Leute hoch schleusen. Und wenn man hier bei uns zum Beispiel sagt, Studiengebühren verhinderten den Zustrom von Arbeiterkindern, dann kann ich nur sagen, in Harvard und Princeton und Stanford und wo ich sonst war, da gibt es einen so hohen Prozentsatz von Arbeiterkindern, da löst man die materiellen Probleme durch ein großzügiges Stipendienwesen.
Insgesamt finde ich die Bildungsreform schon imponierend. Also, als ich nach Bielefeld ging 1971, da baute der damalige Wissenschaftsminister Rau, der spätere Bundespräsident, ein Dutzend Universitäten und technische Hochschulen und sein Wunsch war, als er das erste Mal nach Bielefeld kam: "Geht bitte nicht mit den Kosten über eine Milliarde. Ich habe zu viele Projekte laufen." Wenn man sich überlegt, wie heutzutage die Exzellenzinitiative mit wenigen Milliarden der Illusion nachjagt, man könnte deutsche Staatsuniversitäten in kurzer Zeit auf das Niveau von Harvard heben, was ein Jahresetat von fünf Milliarden Dollar hat, allein, als eine Universität, dann sieht man, wie doch damals, das bleibt auch ein Ehrenblatt der Sozialdemokratie, die Bildungsreform institutionell vorangetrieben worden ist, denn wenn man nur auf Nordrhein-Westfalen blickt, kann man ja nicht anders, als zu konstatieren, dass Bochum und Düsseldorf und Bielefeld und all diese neuen Universitäten sich aufs Ganze gesehen bewehrt haben als Reformuniversitäten.
Dann ist zweitens natürlich inzwischen die Gesamtschule gescheitert, aber das Gymnasium ist zu einer modernen städtischen Gesamtschule geworden. In den Städten gehen 65 Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium. Das entspricht übrigens den Wunschvorstellungen der Gymnasiumsgründer zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und das ist eine enorme Veränderung. Wenn man es damit vergleicht, etwa in den fünfziger Jahren, als vier Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium gingen.
Also, das will ich alles anerkennen, ich habe das auch sehr betont, aber diese wirklich ganz euphorische Erwartung, dass man durch Aufstiegsmobilität im höheren Schulwesen, im Universitätswesen insgesamt die Struktur der sozialen Ungleichheit sozusagen zum Besseren verändern könnte ...
König: Das hat nicht geklappt.
Wehler: Nein, da hat sich doch nur mancher Wehrmutstropfen eingestellt und man stellt fest, wie unglaublich schwer das ist, in den Köpfen festsitzende Hemmungen, zum Beispiel in den unteren Klassen, zu überwinden, damit sie die Kinder auf diese Aufstiegsleiter überhaupt gehen lassen.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Professor Hans-Ulrich Wehler, dessen fünfbändige "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" nun vollständig vorliegt. Herr Wehler, der Untertitel dieses neuen und letzten Bandes der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" lautet: "Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 - 1990". Es ist dann aber doch weitestgehend eine Geschichte der Bundesrepublik, der DDR schenken Sie vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Warum?
Wehler: 64 Millionen Deutsche lebten in der Bundesrepublik, 16 Millionen in der DDR. Die DDR ist das einzige europäische Land, was in diesen Jahrzehnten stagniert, ja sogar schrumpft und sozusagen schon von den Größenverhältnissen war da keine sozusagen Gleichbehandlung möglich. Dann ist es zweitens eine Diktatur, die zweite Diktatur auf deutschem Boden, die sozusagen ihren Untergang durch den Protest der eigenen Bevölkerung erlebt hat. Und dann habe ich zuerst die Teile über die Bundesrepublik, die ganz im Mittelpunkt steht, geschrieben und dann jeweils zum Vergleich und zum Kontrast mit sehr pointierten Urteilen, die jetzt von manchen Lesern und Kritikern bestritten werden, die DDR angefügt, weil das sozusagen ein rundum gescheitertes Experiment ist, eine kommunistische Diktatur in Deutschland sozusagen auf Dauer zustellt.
König: Die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron beklagt sich heute in der "FAZ" bitter, Sie würden die DDR nur als eine Fußnote der Geschichte begreifen, würden die DDR nur von ihrem Ende her betrachten. Was antworten Sie Frau Maron?
Wehler: Frau Maron würde ich antworten, dass die Fußnote der Geschichte eine bittere Äußerung von Stefan Heym ist auf einer Berliner Großversammlung. Aber ich billige das Urteil. Aus der Vogelperspektive ist das ein 40-jähriges Intermezzo, was in jeder Hinsicht gescheitert ist: Die Natur weithin zerstört, Millionen Menschen ihrer Lebenschancen beraubt, Hunderte wie Karnickel abgeschossen, Tausende in den Konzentrationslagern, 300.000 allein durch die Stasi-Keller geschleift, ökonomisch völlig gescheitert, in vielen Köpfen der Ideenmüll eines späten Marxismus und Kommunismus.
Also, ich kann sozusagen diese Negativbilanz noch verlängern, das Ergebnis ist dann, wenn man unter dem Gesichtspunkt was sind die entscheidenden Strukturen und Prozesse, die die DDR zum Vergleich heranzieht, dann kann ich nicht sozusagen wie Frau Maron sich das gewünscht hätte, das Innenleben in der DDR mit den anfänglichen Hoffnungen der Gründergeneration gestandener Kommunisten und junger Leute, die wegen der Massenflucht in den fünfziger Jahren auf einmal ganz unerwartet in hohe Positionen aufrückten und dann auch dem Regime ihre Loyalität schuldeten.
Das kann ich nicht so ausführlich schildern, dafür gibt es eine groß angewachsene DDR-Forschung, wo man das im Einzelnen nachlesen kann. Mir geht es dann pointiert darum, was leistet das neue Wirtschaftssystem, was ist mit der Verheißung der sozialen Gleichheit in einer kommunistischen Gesellschaft, wo eine herrschende politische Klasse von, wie ich glaube, rund 550 Kaderkommunisten sozusagen das Land leitet, und so weiter, das sozusagen pointiert herauszuarbeiten und natürlich, da hat Frau Maron recht, sehe ich das vom Ende. Ich beurteile ja auch die Bundesrepublik danach, was sie in 50 Jahren geleistet und aufgebaut hat, sodass sie meines Erachtens zu Recht als deutscher Kernstaat sich dann die Landesteile der verblichenen DDR eingegliedert hat.
König: Herr Wehler, Sie haben in Deutschland in hohem Maße dazu beigetragen, dass sich die historische Sozialwissenschaft in der Geschichtswissenschaft etablieren konnte. Diese jetzt vollständige fünfbändige Gesellschaftsgeschichte soll ja nicht zuletzt zeigen, was das heißt, Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Was hat nach Ihrer Auffassung die historische Sozialwissenschaft geleistet beziehungsweise was kann, was muss sie leisten?
Wehler: Ja, das wäre kokett, wenn ich sie, diese historische Sozialwissenschaft, jetzt lobte, aber wenn Sie sich mal die Situation der fünfziger, sechziger Jahre vergegenwärtigen, als in der deutschen Geschichtswissenschaft ganz im Unterschied zu Frankreich, England, Amerika eine sehr konventionelle Politik oder Ideengeschichte dominierte. Und zum Beispiel die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus und der Machtübernahme, und so weiter, der Etablierung der Diktatur, überhaupt nicht eingehend diskutiert wurde, sondern immer nur der Verfall des politischen Systems und die außenpolitischen Winkelzüge, dann war sozusagen unser Anlauf, einmal nicht Innen- oder Außenpolitik in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Gesellschaft, die Gesellschaft vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts, ein Anlauf, der durchaus einer internationalen Strömung entsprach.
Das verschaffte einem auch so ein gewisses Hochgefühl, dass man mit den besten englischen, französischen, amerikanischen Historikern da sozusagen an denselben Problemen anbiss. Im Einzelnen beruhte das dann darauf, dass wir argumentiert haben, man darf nicht sozusagen immer nur stolz auf die eigene Wissenschaftszunft blicken, sondern man muss bei den anregenden systematischen Nachbarwissenschaften, bei der Soziologie, bei der Ökonomie, bei der Politikwissenschaft sozusagen blicken, was können wir von denen lernen, da sind ja auch Tausende von intelligenten Köpfen engagiert, sowie heute die neuere Kulturgeschichte blickt auf die Kulturanthropologie und auf die Linguistik und die Sprachsoziologie, und so weiter.
König: Man hat aber bei jüngeren Historikern schon den Eindruck, dass sie sich gerne eher der Alltags- und Kulturgeschichte zuwenden.
Wehler: Ja, da ist ein Bruch seit den achtziger Jahren. Das ist ein internationales Phänomen auch, dass sozusagen Kultur aufgewertet wird. Aber im Vergleich hat bisher die neuere Kulturgeschichte vor allem in Deutschland sozusagen von unsereins und von der Politikgeschichte vernachlässigte Phänomene aufgegriffen, also die Rolle von Religion, von Ritualen, von Symbolen, dem Mikrokosmos einer Bergarbeiterstraße oder eines kleinen Bauerndorfes.
Was ganz fehlt, und ich habe auch große Zweifel, ob das bei den konkurrierenden verschiedenen Kulturbegriffen gelingt, ist eine Sinntiefe, sozusagen eine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhunderts zum Beispiel.
König: Zum Schluss, Herr Wehler, noch eine Frage zum Stil: Ich fand ja Ihre Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung ausgesprochen aufschlussreich, fand aber die Lektüre des Buches, zumindest streckenweise, ja, wie soll ich das sagen, anstrengend, wobei, intelligente Bücher dürfen anstrengend sein.
Hier hatte ich aber manchmal den Eindruck, als hätten Sie eine gewisse Angst vor, wie soll ich das sagen, vor der Erzählung, wie es meinetwegen britische Historiker gerne machen. Gibt es so eine Angst vor der Erzählung bei einem sozialwissenschaftlich arbeitenden Historiker?
Wehler: Es ist keine Angst, es sind unterschiedliche Sprachebenen, auf denen man sich bewegt. Also, Sie bezahlen einen Preis dafür, wenn man die Geschichte sozusagen analytisch angeht, wenn man sagt: "Da gibt es eine bestimmte Aufstiegsmobilität, wie kann ich die möglichst genau erfassen?". Manche Leser werden sicher rügen die statistischen Angaben, aber es ist schon wichtig, dass man sagen kann: "Nein, die herrschende Klasse in der DDR, das sind gut 500 und nicht etwa 50.000." Also in der Genauigkeit ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, da kommt es schon auf solche statistischen Angaben an. Aber die Grundentscheidung, sozusagen analytisch an ein Problem heranzugehen, die sperrt sich gegen den Erzählungsduktus.
Nun bewundere ich sehr französische Historiker, also Goubert oder auch Braudel, die können das, am Anfang eines Kapitels über die Landwirtschaft sozusagen ganz anschaulich zu sagen, wie ein einfacher Bauer morgens aufsteht, 15 Stunden arbeitet und was er da alles tun muss. Und nachdem man sozusagen ein anschauliches Bild auf ganz wenigen Seiten gewonnen hat, dann analysieren sie die Größenverhältnisse des Besitzes, die Kapitalversorgung, die Schwierigkeiten auf dem Markt und diese sozusagen eher abstrakten Dinge. Ich kann das nicht.
Also, ich habe mir manchmal vorgestellt, wie man da rangehen könnte. Also, man könnte bei der Behandlung von Bildungsbürgertum den Alltag von Studienräten an einem Gymnasium von Ärzten, Juristen zu skizzieren versuchen, aber dann gibt es auch so einen Sog, der von der analytischen Herangehensweise ausgeht und der verdrängt die Erzählung.
König: Vielen Dank. Die "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler ist vollständig. Heute erscheint im Verlag C. H. Beck Band Fünf, "Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 -1990".