Volha Hapeyeva: "Camel Travel"
Roman aus dem Belarussischen von Thomas Weiler
Literaturverlag Droschl, Graz 2021
128 Seiten, 18 Euro
Vom Aufwachsen im politischen Umbruch
05:45 Minuten
Belarus Anfang der 1990er-Jahre: Die Sowjetunion zerfällt, das Land wird unabhängig und 1994 übernimmt der autoritäre Herrscher Lukaschenko die Macht. In „Camel Travel“ erzählt Volha Hapeyeva vom Aufwachsen in politisch unruhigen Zeiten.
Die junge Volha – namensgleich mit der Autorin – wächst in den 1980er- und 1990er-Jahren in Belarus auf, einem Land, das noch geprägt ist von der sowjetischen Zeit und sich zugleich im Umbruch befindet: Die Sowjetunion zerfällt, die Unabhängigkeit wird erstrebt und kurz erreicht. Dann übernimmt 1994 der autoritäre Präsident Alexander Lukaschenko die politische Führung in Minsk.
Von all dem erzählt Volha Hapeyeva in ihrem autobiografischen Romandebüt "Camel Travel" subtil. Selten wird sie konkret, dafür ist ihre Volha noch zu jung und an anderem interessiert: Sie möchte mit ihren Freundinnen Ball spielen, ärgert sich, dass sie als Mädchen darum kämpfen muss, dies tun zu dürfen, übt auf einem Klavier aus Papier für den Musikunterricht, ist strebsam und kann sich mit ihrer Rolle als Oktoberkind in der Schule gut identifizieren, auch wenn das von zu Hause aus nicht erwartet wird:
"Meine Mutter las andere Literatur, von Lenin und der Partei hielt sie sich fern. Aus mir hätte dagegen eine echte, aufrichtige und ergebene Kommunistin werden können, meine Naivität und der Respekt vor den Autoritäten in Schule und Lehrerin hatten den Boden bereitet. Aber die Sowjetunion zerfiel und ich kam über die Pionierin nicht hinaus."
Unbewusste Rache
Teil dieser Welt ist auch ihre Großmutter Babulja, eine ehemalige Dorfschullehrerin und Mutter von vier Kindern. Sie hätte viel lieber Mathematik studiert und eigene Kinder womöglich gar nicht erst bekommen, wenn sie gewusst hätte, was das Muttersein für sie bedeutet.
Die Brücke zwischen dem Unglück der Großmutter und den sowjetischen Erwartungen schlägt die ältere Volha, die ihre kindlichen Erinnerungen mit ihrem jetzigen Wissen und der Auseinandersetzung mit ihrer Familie anreichert.
"Vielleicht war sie zornig auf die ganze Welt und nahm unbewusst Rache, indem sie ihren Kindern die Zärtlichkeit vorenthielt? Oder wollte sie sie damit vor der Brutalität jener Zeit bewahren, da emotionale Bekundungen von Menschlichkeit noch verpönter waren als in meiner Kindheit?"
In insgesamt 20 kurzen Kapiteln erzählt Volha Hapeyeva ein Stück Familiengeschichte und geht dabei auch auf Unterschiede innerhalb der Generationen ein, die durch die politischen Verhältnisse in Belarus geprägt sind.
Ihr Ton ist dabei flapsig, die kindliche Perspektive bietet Spielraum für Naivität, die die Autorin immer wieder durch die Interpretation der Erwachsenen durchbricht.
Auf dem Weg zur feministischen Autorin
Zuweilen verliert die kindliche Stimme an Glaubhaftigkeit, wie wenn die Großeltern stundenlang Karten spielen und die junge Erzählerin darin eine Metapher für die Kämpfe sieht, die ihre Großeltern im Laufe des gemeinsamen Lebens schon miteinander ausfechten mussten.
Als Lyrikerin gehört Volha Hapeyeva in Belarus zu den wichtigsten Autor*innen der Gegenwart, die auch im deutschsprachigen Raum keine Unbekannte mehr ist. Mit ihren Prosa-Erinnerungen an ihre Kindheit wirft die Autorin nun Schlaglichter auf ihr Aufwachsen in einem politisch unruhigen Land.
Zugleich skizziert sie ihren eigenen Weg zu einer feministischen Autorin, die, wie viele andere intellektuelle Stimmen ihrer Generation, sich in ihrer Arbeit kritisch mit den politischen Verhältnissen in Belarus auseinandersetzt.