Volker Braun: "Große Fuge"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
53 Seiten, 16 Euro
Scharfer Kommentar zur Erosion der demokratischen Spielregeln
05:38 Minuten
In seinem Gedichtband "Große Fuge" evoziert Volker Braun den Zustand einer vom Corona-Jahr 2020 zutiefst verstörten Gesellschaft. Wohlfeile Meinungsfreude gibt es bei ihm nicht, dafür stilistische Souveränität und großartige Denkbilder.
Im letzten Gedicht seiner unvollendet gebliebenen "Cantos" hat der amerikanische Dichter Ezra Pound in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Welt eine düstere Diagnose gestellt: "The scientists are in terror / And the European mind stops" – "Die Wissenschaftler packt das Grauen / und das europäische Denken steht still".
Diese Verszeilen zitiert der Dichter Volker Braun im Auftaktgedicht seines neuen Gedichtbuches "Große Fuge" – und man geht nicht fehl, wenn man diese visionäre Formel als eine gesellschaftskritische Pointe seiner Gedichte identifiziert. Wie einst Pound hat Braun seine formal wie thematisch wuchtigen Gedichte seit jeher als geschichtsphilosophische Menetekel angelegt.
Mythologie und Marxismus
In den 20 Gedichten seines schmalen, großformatigen Gedichtbuches will er nun den Zustand einer im Corona-Jahr 2020 zutiefst verstörten Gesellschaft evozieren – in einer globalen Perspektive, wie sie einst seine Vorbilder Dante oder eben Pound eingenommen haben. Auf die fundamentale Erosion der demokratischen Spielregeln im Corona-Jahr reagiert Braun mit bitterscharfen Kommentaren, ohne dabei mit wohlfeiler Meinungsfreude aufzutrumpfen.
Im Gegenteil: Was an diesem Gedichtbuch verblüfft und fasziniert, ist die stilistische Souveränität, mit der Braun das Corona-Thema in seine weit aufgefächerte Bildwelt zwischen antiker Mythologie und marxistisch gefärbtem Geschichtsdenken integriert. Kurz nach dem ersten Lockdown hatte sich eine starke Inflationierung sogenannter "Quarantänelyrik" abgezeichnet, die sich meist in ästhetisch dürftigen Produkten niederschlug.
Ideologische Renitenz
Volker Braun dagegen collagiert in der "Großen Fuge" in kunstvoll schroffer Fügung und hohem Ton seine sarkastischen Blankverse zum "Weltenaufruhr" in der Zeit der Pandemie, den "gräßlichen Fatalismus der Geschichte" (Georg Büchner) immer im Blick. Gemäß dem Kompositionsprinzip der Fuge will Braun eine polyphone Mehrstimmigkeit erzeugen, indem er zahlreiche Zitate und Stimmen anderer Dichter in seine Gedichte aufnimmt. "Bei Beethoven", heißt es an einer Stelle, "kündigt sich / Die Katastrophe an, in der Gebrochenheit der Fugen …"
Mag die Hoffnung auf eine Veränderung der kapitalistischen Verhältnisse auch stark gelitten haben, der mittlerweile 82-jährige Volker Braun lässt sich von seiner ideologischen Renitenz nicht abbringen: "Und du läufst, ein panisches Freitagskind / In der Begängnis im Weltgebäude / aus der Geschichte / Kein Telos, "eine Handvoll Maximen" / und ein Trampelpfad / Aus den Systemen."
Prominente Zeitzeugen
Volker Braun gelingen in der "Großen Fuge" großartige poetische Denkbilder zu einem europäischen "Abendland", das sich das Berührungsverbot zu eigen gemacht hat. Während im ersten Teil des Bandes die Imperative der Pandemie-Zeit Thema sind, präsentiert die zweite Abteilung mit dem Titel "Tonkrieger" Szenen der Vergänglichkeit und imaginäre Dialoge mit toten Freunden.
Prominente Zeugen der europäischen Zeitgeschichte tauchen in den Gedichten auf, wie der ungarische Weltautor Imre Kertész oder der Kulturphilosoph Rudolf Bahro. In einem starken Poem wird auch der ostdeutsche Sprachmystiker Carlfriedrich Claus gewürdigt, der in fantastischen Schriftbildern und Sprachblättern seine Zeit abbildete.
In seinem Aufzeichnungsbuch "Handstreiche" hat Volker Braun zuletzt 2019 die einzige Aufgabe benannt, die moderner Dichtung noch bleibt: "Das Denken ins Freie bringen." In der "Großen Fuge" hat er diese Befreiungs-Expedition erfolgreich fortgeführt.