Volker Braun: "Luf-Passion"
© Faber und Faber
Gesänge einer Vernichtung
06:10 Minuten
Volker Braun
Luf-Passion. Ein GedichtzyklusFaber & Faber, Leipzig 202264 Seiten
20,00 Euro
Volker Braun hat ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in lakonisch schmerzhafte Verse gebracht. Dafür bediente er sich unter anderem schriftlicher Zeugnisse der Täter, die in den Kolonien damals so genannte "Strafexpeditionen" unternahmen.
Ausgangspunkt dieses Gedichtzyklus war wohl das berüchtigte Luf-Boot, das heute im Humboldt Forum ausgestellt – man könnte auch sagen: eingemauert – ist. Vergangenes Jahr hat der Historiker Götz Aly die Herkunft dieses Exponats aufgedeckt und den Blick der Öffentlichkeit auf die Verbrechen der deutschen Kolonialgeschichte in der Südsee gelenkt. Volker Braun, der große Zeitzeuge unter den deutschen Dichtern, hat sie nun auf seine Weise aufgegriffen.
Kanonenboote im Bismarck-Archipel
Er hat schriftliche Zeugnisse der Täter von damals benutzt und in Verse gebracht. Damals, das war in den 1880er-Jahren, als deutsche Kanonenboote im Bismarck-Archipel sogenannte „Strafexpeditionen“ unternahmen, Land raunten, die Bevölkerung abschlachteten, Frauen vergewaltigten, Lebensmittel vernichteten und die einheimische Infrastruktur – vor allem die Boote, die überlebenswichtigen und hochseetauglichen Verkehrsmittel – zerstörten.
Die Dichterin Ann Cotten hat die englische Version dieses Zyklus geschaffen – mit ganz eigenen Akzenten. Man kann und sollte dieses Buch von zwei Seiten her lesen, und das ist nicht nur wörtlich gemeint.
Vielstimmige Collage
Denn nicht nur die Täter kommen hier zu Wort: Unter der Überschrift Syphilis sprechen die Inselbewohnerinnen selbst; das Gedicht Ozeanien versucht, das Weltbild der Melanesier in deren Worten zu fassen. Dazu gestellt hat Braun sehr unterschiedliche Textpassagen aus dem Hallraum der europäischen Kulturgeschichte:
So lässt er Diderots fiktiven „alten Tahitianer“ aus dem Supplément au voyage de Bougainville zu Wort kommen, zitiert einen Bach-Choral voller christlicher Selbstgewissheit (Text: Albrecht von Preußen) und kontrastiert ihn mit dem militärischen Jargon eines preußischen Seesoldaten, der ein Gemetzel unter Insulanern beschreibt. Dieses Nebeneinander und Gegeneinander der Stimmen – fragmentiert, collagiert, eindrücklich – macht Kolonialgeschichte und deren geistige Wurzeln auf einer Ebene jenseits historischer Kategorien begreiflich.
Der koloniale Blick
Es ist allerdings problematisch, wenn Stimmen mündlicher Kulturen, noch dazu kolonisierter Kulturen wie es die ozeanischen sind, in der Sprache der einstigen Kolonialisten verschriftlicht werden. In meinem eigenen Roman über die sogenannte „Deutsche Südsee“ habe ich genau das vermieden, weil es mir wie eine neuerliche koloniale Anmaßung erschien. Doch es ist eine Frage des Anliegens:
Was soll erzählt werden, und: Wie können diese Stimmen für uns hörbar gemacht werden? Volker Braun ist sprachlich den Weg gegangen, den er so oft eingeschlagen hat, den Weg brecht‘scher Aufklärungslyrik. Die Zeugnisse der Täter werden auf diese Weise entlarvt; die der Überlebenden aber sind und bleiben Fiktion, bestenfalls Projektion, auch in ihrer poetisierten Form. Es ist ein Dilemma, das nicht aufzulösen ist.
Poetische Unerbittlichkeit
Brauns Verse, scheint es, wollen nicht nur begreiflich machen, sie wollen selbst begreifen: Was da vernichtet wurde und aus welcher Geisteshaltung heraus das geschah. Im Übrigen bewegt er sich nicht in einer bloßen Täter-Opfer-Dichotomie:
Ein mitten im Zyklus plötzlich auf einen anderen Kontinent springender Exkurs: Messingkauf über das „kriegs-& kunstsinnige“ Benin, das Kupfer aus Europa bezog und mit Sklaven handelte, skizziert die komplexen Verflechtungen des Kolonialismus in wenigen Worten. Das ist Volker Braun in Bestform: lakonisch, präzise, poetisch und unerbittlich.