Volker Braun und seine Freunde

Die Berliner Mauer, 1962
Die Berliner Mauer, 1962 © Deutschlandradio
Von Bernd Wagner |
Selig die Zeiten, in denen Schriftsteller noch das Geistesleben würzten, indem sie sich beschimpften. Sie sind unweigerlich vorbei. Kein Autor hebt mehr die Hand gegen einen anderen, außer um dessen Hand zu waschen, und wenn es einer dennoch tut, bekommt er von den hauptberuflichen Feuilletonisten eins auf die Finger, damit er sich nicht wieder deren Befugnisse anmaßt.
So geschehen Gert Loschütz, als er Volker Brauns Mauer-Gedicht in schöner Offenheit eine der widerlichsten Hervorbringungen nannte, die jemals im Gewand eines Gedichts aufgetreten seien. Das Gedicht, musste er sich nun anhören, ist nicht von 1979, wie Loschütz einer falschen Quellenangabe des Verlags entnahm, sondern von 1965, und außerdem habe Braun tapfer gegen die Biermann-Ausbürgerung protestiert, während Loschütz im sicheren Westen saß.

Dumm gelaufen, könnte man sagen und den Fall zu den Akten legen, hätte Loschütz nun nicht seinerseits seinen Kritikern nachweisen können, dass sie bei der halben Wahrheit stehen geblieben sind, nämlich vor der postwendenden Distanzierung Brauns von seinem Protest im "Neuen Deutschland". Zu viele für die Gegenwart wichtige Fakten vermischen sich in diesem Disput, als dass man sie nicht ordnen und genauer untersuchen sollte. Zum einen ist da Brauns poetische Reaktion auf den Mauerbau, zum anderen seine Haltung während der Biermann-Affäre und zum dritten seine Rolle als Direktor der Sektion Literatur in der Berliner Akademie der Künste.

Zum Gedicht. Volker Braun wird zugute gehalten, dass er darin die Mauer "Mauer" nennt und nicht "Antifaschistischer Schutzwall", was in einem Gedicht allerdings selbst für ihn ein schwieriges Unterfangen gewesen wäre. Braun spielt ja gerade damit, dass er Volkes Stimme und dessen Befürchtungen zu Wort kommen lässt, um sie am Schluss zu beschwichtigen: die "Schande" der Mauer "ist nicht unsre", sondern die des Westens. Seine Befürworter nennen dies Verfahren "antithetisch"; jeder DDR-Bürger kennt es aus Staatsbürgerkunde-Unterricht und Parteilehrjahr, wo er zur dialektischen Verdauung der zahlreichen Widersprüche in seinem Leben geschult wurde. Volker Braun hat diese Verdauungsarbeit in seinen Versen geleistet, was ihn zum Liebling der für Decodierungsaufgaben dankbaren Germanisten in Ost und West machte.

Dass Loschütz nicht in deren Lobeshymnen einstimmt, hat auch mit seiner Biographie zu tun. Er gehörte zu einer Familie, gegen die die Mauer gebaut wurde: die, laut Brauns Gedicht, "abhaun zu den Wölfen Die Lämmer", die "abhaun mit ihrer Haut zum Markt", "die Blinden Hühner", die sich "vor Kimme und Korn" finden. Wie viel Empathie mit dem Zynismus des Schreibers gehört dazu, um diese Zeilen zu rechtfertigen.

Und wie viel Verblendung, um, wie Volker Braun in seiner jüngsten Äußerung, es als Beweis seines Mutes zu verkaufen, dass er als Folge dieses Gedichtes nicht mehr in den Westen reisen durfte, dass er also wie die restlichen 17 Millionen DDR-Bürger die Wirkung der Mauer am eigenen Leib spürte, für die er sie gelobt hatte.

Anders als für die übergroße Mehrzahl seiner Landsleute galt dieses Reiseverbot nur begrenzte Zeit, und auch die Folgen von Brauns Unterschrift unter die Protesterklärung gegen Biermanns Ausbürgerung waren vergleichsweise harmlos: er bekam eine "Parteirüge". Schließlich hatte er, zusammen mit Karl-Heinz Jakobs, als erster seine Unterschrift zurückgezogen, um dem Klassenfeind nicht zu ermöglichen, "eine Kluft zwischen uns und unserer Partei zu konstruieren". Dieser Partei hielt er weiterhin die Treue, während sie weniger reumütige Protestierer aus dem Land oder dem Schriftstellerverband jagte oder, wenn sie nicht durch die Bekanntheit ihres Namens geschützt waren, hinter Gitter steckte. Die "Frankfurter Allgemeine" nennt Braun dafür "Dissident". So billig war diese preislich inzwischen stark herabgesetzte Ware noch nie zu haben.

Zur Berliner Akademie. Die Verwunderung, wie Braun zum Direktor der Sektion Literatur gewählt werden konnte, mindert sich, wenn man die Vorgeschichte kennt. Sie ist das Ergebnis der Vereinigung der beiden Akademien in Berlin Ost und West, betrieben vor allem von den Gegnern der Vereinigung Deutschlands Günter Grass, Walter Jens und Heiner Müller. Jede Akademie rekrutiert ihre Mitglieder durch Zuwahl, so tat es auch die in Ostberlin. Die daraus resultierende Ansammlung staatstragender Kräfte ist logischerweise nie durch Kritik an diesem Staat aufgefallen, weder im Juni ’53, noch während des Mauerbaus, noch während des Einmarsches in die Tschechoslowakei. Als bis auf wenige, zu kompromittierte Ausnahmen, die gesamte Mitgliederschaft der alten Akademien in die neue übernommen wurde, traten Günter Kunert, Georg Baselitz und György Ligeti aus. Das war so wenig ein Anlass, die eigene Legitimität in Frage zu stellen, wie es für den unter ähnlichen Umständen fusionierten PEN von Bedeutung war, dass ihn Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich, Hans Christoph Buch und Peter Schneider verließen. Neue Mitglieder konnten ja hinzugewählt werden. Dass eines von ihnen jetzt seinen Direktor der Sektion Literatur in der "Süddeutschen Zeitung" verteidigte, ist nur verständlich.
Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".