Volker Heise: "Außer Kontrolle"
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017
240 Seiten, 20 Euro
Eintauchen in die Abgründe einer Metropole
Unerfüllte Ambitionen, gestrauchelte Personen und eine tödliche Begegnung: Volker Heise taucht in "Außer Kontrolle" ab in das nächtliche Berlin und zeigt, wie in einer zufälligen Begegnung Gewalt entsteht und ausbricht.
Ein Abend und eine Nacht in der Großstadt. Der Name der Stadt fällt nicht, aber sogar ein Tourist würde sie erkennen: Berlin. Es ist eine einfache Geschichte, die Volker Heise erzählt, und ihr Titel sagt eigentlich schon alles: "Außer Kontrolle".
Die Geschichte handelt von Jan und von Nadine. Beide sind Berliner. Das heißt: Sie kommen nicht von dort, sondern aus der Provinz, sind in ihren Ambitionen gestrauchelt und Lebensabschnittsgefährten. Wohin sie wollen, wissen sie nicht. Jan, der Gelegenheitsjobber und Studienabbrecher, hat sich in Nadine verliebt. Bevor sie wie geplant nach einem halben Jahr Auszeit zurückkehrt nach Gühren, 40 Kilometer vor der polnischen Grenze, zu dem mit ihr verlobten Schweinegroßbauern Tim, hat sie Jans Einladung in das Sternerestaurant "Paris" abgenommen. Dort wird vielleicht etwas passieren, das größer ist als die bevorstehende Rückkehr ins Unbedeutende.
Von Kochkunst und Abgründen
Das "Paris" liegt im Wedding, einem alten Arbeiterbezirk. Naujoks ist der Wirt, ein Star mit Starallüren, im Herzen ein Prolet. Zerrissen zwischen Avantgardekochkunst und den Abgründen, die sich bei jedem Blick von seinem Schuldenberg auftun. Naujoks liebt nur seine Fische, ihr stummes Herumschwimmen ist seine einzige Beruhigung. Im "Paris" gerät alles außer Kontrolle durch die Begegnung einer wahnsinnig schönen Frau, die nicht weiß, was sie will, eines romantischen und schüchternen Jungen, der zu klein ist für seine Ambitionen und eines verzweifelten Cholerikers am Ende seines Ruhms.
Und die Geschichte handelt von der Großstadt. Volker Heise hat schon mal von ihr erzählt. In seinem ultraaufwändigen Dokumentarfilm "24h Berlin - Ein Tag im Leben", in dem alle Szenen, Leute und Schichten der Metropole eingefangen wurden. Die dokumentarische Methode, eindringliche Szenen lose zu verknüpfen, macht auch den Reiz des Romans aus. Er steht in der Sterneküche, hockt erst im Streifenwagen und dann im Verhörzimmer auf dem Revier, schwenkt durch die Notaufnahme eines Krankenhauses. Mit dem Unterschied, den der Roman zum Film bietet: Wir Leser nehmen teil am Innenleben der Figuren. Ihre Hoffnungen und Ängste machen die Kontraste scharf, sie kollidieren mit den Zufällen und mit den Hoffnungen und Ängsten anderer. Daraus entsteht ein großartiger Sound: Rau instrumentiert, in Moll komponiert. So heiser klingt die Metropole in einer Spätsommernacht.
Mehr als nur ein Krimi
Es gibt keine Kommissare, keine Ermittlung, aber Täter, Tote und auch Polizisten. Dem Erwartungshorizont, der gemeinhin mit dem Wort Krimi verbunden ist, entsprich Volker Heises Roman nicht. Aber wie oft schon plädiert die Jury der Krimibestenliste mit der Wahl dieses tollen Stücks Literatur für die Erweiterung des Krimi-Horizonts. Denn Heise erzählt davon, wie Gewalt entsteht und ausbricht, wie das, was die Juristen notdürftig in Strafgesetzbuchparagrafen beschreiben, das Verbrechen, einzelne Leben zerstört und doch das Leben ausmacht. Nicht das ganze, aber das in der Nacht.