Volker Kutscher: "Marlow"
Verlag Piper, München 2018
528 Seiten, 24 Euro.
Grautöne als Erlebnis
Durch die Folgen eines Taxiunfalls gerät Gereon Rath ins Visier des SS-Geheimdiensts. In "Marlow" führt Volker Kutscher die Geschichte des eigensinnigen Kommissars weiter - und macht den Alltag im Dritten Reich beklemmend nachvollziehbar.
Als ein Taxi scheinbar grundlos gegen eine Mauer fährt und Fahrer und Passagier dabei ums Leben kommen, deutet zunächst alles auf einen banalen Verkehrsunfall hin. Dann aber stellt sich heraus, dass der tote Fahrgast ein hochrangiges SS-Mitglied war und als Kommissar Gereon Rath in dessen Unterlagen eine brisante Akte findet, in der der Name Hermann Göring auftaucht, gerät er ins Visier des SS-Geheimdiensts SD.
Dabei wäre Rath eigentlich gar nicht mehr für den Fall zuständig, schließlich ist er von der Mordkommission ins Landeskriminalamt gewechselt, um seine Karriere in Schwung zu bringen. Aber der seltsame Taxiunfall lässt ihn nicht los, erst recht nicht, als er begreift, dass sein ewiger Widersacher, der ehemalige Unterweltkönig und nunmehrige SS-Mann Johann Marlow, irgendwie in die Sache verstrickt ist.
Höhepunkt der Krimireihe
Vor zehn Jahren erschien der erste Band der Serie um den Berliner Kommissar Gereon Rath, damals noch ein recht stringenter Krimi, in dem die politischen Wirren der frühen Dreizigerjahre Jahre nur den Hintergrund für Raths Ermittlungen bildeten. Mit jedem weiteren Buch jedoch wurde die Krimireihe komplexer und "Marlow" ist hier ein vorläufiger Höhepunkt: verschlungen und verwinkelt, mit zahlreichen Handlungssträngen, die erst am Schluss zusammenlaufen.
Während Rath – eigensinnig und einzelgängerisch wie immer – den Hintergründen des Unfalls nachspürt, muss sich seine Frau Charly nicht nur mit Marlows rechter Hand, dem Chinesen Liang Kuen-Yao, herumschlagen, sondern auch mit ihrem großen Trauma, dem Tod ihres Vaters. Ihr Pflegesohn Fritz marschiert inzwischen zu Charlys großen Kummer mit der Hitlerjugend zum Parteitag in Nürnberg und zu allem Überfluss beginnt das Jugendamt, sich für die Familie Rath und ihre politische Haltung zu interessieren.
Grandioses Zeitporträt
Einmal mehr erweist sich Volker Kutscher als geschickter Jongleur, der seine Bälle scheinbar mühelos in der Luft hält. Er erzählt langsam und detailreich, mit beeindruckenden Kenntnissen der Zeit und ihrer Strukturen und der ebenso beeindruckenden Fähigkeit, die komplizierten Gefühlswelten seiner Figuren auszuloten.
Charly lehnt sich gegen das Regime auf, kann aber nicht verhindern, dass die Politik immer tiefer in ihr Privatleben eindringt, Fritz stellt irgendwann fest, dass er die HJ gar nicht mehr so großartig findet, weiß aber nicht, wie er ihr entkommen könnte und Rath selbst ist ein fragwürdiger Held, der mit oft dubiosen Mitteln durch seine Ermittlungen schlingert, sich in immer neue Lügen verstrickt und über sich selbst entsetzt ist, als er – der die Nazis eigentlich nicht mag – auf dem Parteitag von den Massen mitgerissen plötzlich "Heil Hitler!" brüllt.
Es sind diese Grautöne, die Volker Kutschers Romane zu einem Erlebnis machen, zu einem grandiosen Zeitporträt, das weit über einen Kriminalroman hinausgeht und den Alltag im Dritten Reich auf beklemmende Weise nachvollziehbar werden lässt. Bis 1938 soll Gereon Rath noch ermitteln: Man darf auf das, was da kommt, gespannt sein.