Volker M. Heins: "Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie"
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021
224 Seiten, 22 Euro
Bewegungsfreiheit ist Menschenrecht
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Während wir im Westen fast überallhin reisen können, wird der Großteil der Menschheit daran gehindert, auch mit Gewalt. Dem setzt der Politologe Volker Heins "offene Grenzen als Perspektive und Leitmotiv jeder Migrationspolitik" entgegen.
"Ein Versprechen von Freiheit" - so titelte unlängst eine deutsche Tageszeitung, als bekannt wurde, dass sich die EU auf einen digitalen Impfnachweis für alle Mitgliedstaaten geeinigt hatte. Wenn alles gut laufe, sollten die Europäer ab Juni erstmals wieder in den Sommerurlaub reisen dürfen. Was daraus wurde, interessiert an dieser Stelle nicht.
Bedeutsam ist, dass in der Überschrift und ihrem erweiterten Kontext von pandemiebedingten Ausgangs- und Reisebeschränkungen - sowie den verschiedenen abwägenden bis irrlichternden Reaktionen darauf - ein Umstand schön zur Geltung kam: Der Mensch ist ein mobiles Wesen. Er mag es ganz und gar nicht, an einem Ort festgenagelt zu sein.
Bewegungsdrang aus schierer Not
Nun waren diese Beschränkungen notwendig, wir haben sie nicht politischer Willkür, sondern einem kleinen, fiesen Virus zu verdanken. Was, wenn das anders wäre? Was, wenn unser Bewegungsdrang nicht Ausdruck bloßer Reiselust, sondern Folge schierer Not wäre?
Und was schließlich, wenn nicht nur unser eigener Staat uns davon abhielte, in den Rest der Welt aufzubrechen, sondern die Welt ihrerseits alle möglichen Barrieren aufgerichtet hätte, damit wir bleiben, wo wir sind?
An dieser erschreckenden und erschreckend nahe liegenden Überlegung setzt das Buch "Offene Grenzen für alle" des renommierten Politikwissenschaftlers Volker M. Heins an. Er erinnert daran, dass der größere Teil der Menschheit sich in genau dieser Lage befindet – während, wir, die Bürgerinnen und Bürger des Westens, fast überallhin reisen und uns überall niederlassen können.
Heins weist auf die Milliardensummen hin, die ausgegeben werden, um Armuts- und Kriegsmigration zu unterbinden. Er benennt das massenhafte Leid, das die Grenzregimes der Gegenwart produzieren, die "immer mehr zu Todesstreifen und militärischen Einsatzgebieten werden".
Im Mittelmeer ertrunken, in der Wüste verdurstet
Er schreibt: "Von Anfang 1996 bis März 2020 sind mindestens 75.000 Menschen bei dem Versuch, in ein anderes Land zu gelangen, qualvoll ums Leben gekommen, im Mittelmeer ertrunken oder in Wüsten verdurstet. Die Dunkelziffer ist höher."
Wer das normal und gerecht finde, konstatiert Heins, könne nicht gleichzeitig das Hohelied auf die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte singen.
Offene Grenzen als Zukunftsperspektive
Was also tun? Volker Heins’ Antwort ist so einfach wie komplex. Im Geist der Aufklärung und damit vielleicht dem Besten, was Europa zu bieten hat, wirbt er für das, was er bereits im Untertitel eine "notwendige Utopie" nennt, nämlich die "inzwischen unzeitgemäße Idee gleicher Rechte weltweit. Das würde heißen: offene Grenzen als Perspektive und Leitmotiv jeder Migrationspolitik."
Heins ist sich natürlich darüber im Klaren, dass er damit nicht nur die üblichen nationalistischen Beißreflexe auslöst, sondern sich von gemäßigterer Seite dem Vorwurf der Realitätsblindheit stellen muss. Also dekliniert er sein Anliegen angenehm unpolemisch, bestens informiert und mit großer Klarheit durch.
An den eingangs beschworenen, beim englischen Philosophen Thomas Hobbes entlehnten Gedanken, dass Freiheit vielleicht vor allem darin besteht, sich ungehindert von A nach B bewegen zu dürfen, knüpft Heins drei zentrale Thesen:
- "Wenn es stimmt, dass das Bedürfnis nach räumlicher Freizügigkeit gleichsam ein natürliches Recht begründet, dann dürfen Staaten dieses Recht nur dann einschränken, wenn die Rechte anderer bedroht sind oder der Staat selbst gefährdet ist.
- Haben Menschen nicht nur Freiheitsrechte, zu denen das Recht auf Bewegungsfreiheit gehört, sondern es ist ihnen auch an dieser Freiheit gelegen. Das bedeutet, dass sie bereit sind, sich ihre Freiheit mit allen Mitteln zu nehmen, wenn Staaten sie ihnen vorenthalten.
- Die Verwirklichung umfassender räumlicher Bewegungsfreiheit für alle ist aufs Engste mit der Zukunft der Demokratie verknüpft."
Während die erste dieser Thesen eher normativ, also als ethisches Gebot aufzufassen ist, das an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gemahnt, beruhen die beiden anderen auf empirischen Beobachtungen: Über die Jahrhunderte hinweg haben Menschen die absurdesten Hürden überwunden, um sich Wege dorthin zu bahnen, wohin sie nun einmal wollten.
Heins belegt dies mit einer Vielzahl von Beispielen und liefert dabei eine kleine, unterhaltsame Geschichte der Bewegungsfreiheit, die zugleich eine der zahlreichen, mehr oder minder gewalttätigen Versuche ist, dieselbe zu unterbinden.
Dazu gehören auch die Vorwürfe, die seit jeher erhoben werden, um Migranten und ihre Unterstützer zu diskreditieren. Immer sind Migranten zu viele und zu anders, während die Unterstützer entweder als bösartige Menschenhändler oder als trottelige Gutmenschen vorgestellt werden, die in ihrer Naivität das Schlimmste bewirken.
Demokratie braucht die Perspektive offener Grenzen
Was nun die dritte These zur Zukunft der Demokratie betrifft, so erinnert Heins unter anderem daran, dass alle demokratischen Verfassungen darauf angelegt seien, nicht nur den "Bürger" zu schützen, sondern Menschen überhaupt. Daher gebe es keine Demokratie, ohne zumindest eine Perspektive offener Grenzen für alle.
In diesem letzten Satz ist zusammengefasst, wie das Buch gelesen werden sollte: eben nicht als ein Manifest, sondern als Wegweiser und Orientierungshilfe für eine Gesellschaft, deren Werte, Ziele und Ideale nach Jahrzehnten des Friedens und des Wohlstands ins Schwimmen geraten sind.
Eines macht Heins dabei sehr deutlich: Er ist kein Fantast. Er weiß um die Myriaden von Schwierigkeiten, die es auf dem Weg zu bewältigen gilt. Dennoch sei die von ihm aufgezeigte Utopie offener Grenzen nicht nur realistisch, sondern auch bescheiden und demütig. Denn sie beruhe auf der Einsicht, dass sich migrationswillige Menschen nicht willkürlich durch Zwang, Abschreckung und Belohnungen aufhalten oder steuern lassen. Seine Folgerung:
"Sofern bestimmte Regeln eingehalten werden, sollte man die vielen Einzelnen gewähren und wandern lassen, da sie nur ihr Interesse an Selbsterhaltung verfolgen oder nach dem streben, was Hobbes die ‘Annehmlichkeiten des Lebens‘ nannte."
Nichts anderes also, was wir wohlbehüteten Europäer ebenfalls im Sinn haben, wenn wir des Sommers nach Süden aufbrechen, freilich auf sehr viel undramatischere Weisen und in der ruhigen Gewissheit, an den Grenzen nicht aufgehalten, eingefangen, abgewiesen, sondern sehnsüchtig erwartet zu werden. Als Reiselektüre empfehle ich das absolut lesenswerte Buch von Volker Heins. Sie werden der gewohnten Welt neu begegnen.