Volkes Stimme - Brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung? Darüber diskutiert Matthias Hanselmann heute von 9:05 Uhr bis 11:00 Uhr mit Claudia Nierth und Frank Decker. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de – und auf Facebook und Twitter.
Brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung?
Volksentscheide müssen im Grundgesetz verankert werden, fordert Claudine Nierth vom Verein "Mehr Demokratie". Vor den möglichen Gefahren einer direkten Demokratie warnt dagegen der Politikwissenschaftler Frank Decker. Ein Streitgespräch mit Hörerbeteiligung.
Die "Brexit"-Entscheidung der Briten hat auch in Deutschland die Debatte über Pro und Contra von Volksentscheiden befeuert. Eine derartige Volksabstimmung auf Bundesebene ist in Deutschland gesetzlich nicht erlaubt; auf Kommunal- und Länderebene ist sie ein erprobtes Mittel. Und das seit nunmehr 60 Jahren.
Insgesamt gab es seit 1956, als in Baden-Württemberg der erste Volksentscheid auf Gemeindeebene beantragt wurde, fast 7000 Verfahren auf Kommunalebene, auf Landesebene 91 Volksbegehren und 23 Volksentscheide.
Über die direkte Demokratie auf Bundes- oder gar Europaebene wird indes nach wie vor gestritten. Die einen halten bundesweite Volksentscheide für den Inbegriff der Demokratie, für ein Mittel gegen die Politikverdrossenheit und die sinkende Wahlbeteiligung.
Gegner warnen vor einer Aushöhlung des Prinzips der repräsentativen Demokratie, vor einer Lähmung der Politik – und der Unterwanderung durch Populisten.
Brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung?
"Nur alle paar Jahre ein Kreuz zu machen, das ist eine demokratische Unterforderung", sagt Claudine Nierth, Vorstandssprecherin des Vereins "Mehr Demokratie". Der Verein tritt für Volksentscheide und direkte Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene ein und fordert, diese im Grundgesetz zu verankern.
"Die parlamentarische Demokratie muss durch die direkte Demokratie ergänzt werden. Damit werden weiterhin 99 Prozent der Entscheidungen in den Parlamenten gefällt, aber die wesentlichen Entscheidungen, wie zum Beispiel über Militäreinsätze sollten von Bürgerinnen und Bürgern entschieden werden können, wenn sie es wünschen. Über achtzig Prozent der Nichtwählerinnen und Nichtwähler sind für die Einführung von Volksentscheiden! Wo ist da die Verdrossenheit? Dort, wo Bürgerinnen und Bürger diese Rechte bereits haben, zeigen sie sich engagiert."
Claudine Nierth setzt sich seit den 80er-Jahren für die direkte Demokratie ein: Sie gehörte zu den Initiatoren der ersten Volksbegehren "Mehr Demokratie" und Schleswig-Holstein. Die Erfahrungen mit dem "Brexit" können ihr Vertrauen in die Mündigkeit der Bürger nicht erschüttern:
"Am Wahlrecht zweifelt auch niemand, wenn es uns unliebsame Mehrheiten beschert."
"Die Debatte trägt Züge eines Glaubenskrieges"
Die Bürgerinnen und Bürger sollten auch über europa-relevante Themen, wie die Handelsabkommen TTIP und CETA abstimmen dürfen.
Ihre Überzeugung: "Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an, aufzuhören."
"Die Debatte um die direkte Demokratie trägt hierzulande immer noch Züge eines Glaubenskrieges", sagt Prof. Dr. Frank Decker. Der Politikwissenschaftler von der Universität Bonn beschäftigt sich seit langem mit Fragen der Demokratie und der Bürgerbeteiligung. Im September kommt sein neues Buch heraus:
"Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift". Darin fasst er seine Bedenken an der direkten Demokratie zusammen, beschreibt die Chancen und möglichen Gefahren. Im Gegensatz zur Schweiz eigne sich das Regierungssystem der Bundesrepublik mit seinem Wechselspiel von Regierung und Opposition nicht für Plebiszite auf Bundesebene.
Auch, weil so die Opposition die Möglichkeit nutzen könne, durch die Hintertür der direkten Demokratie die Regierungspolitik zu konterkarieren.
Er warnt auch vor der Instrumentalisierung der Bürgerbeteiligung durch Populisten wie der "Pegida" oder der "AfD".
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