Shulamit Volkov: „Deutschland aus jüdischer Sicht“
© C.H. Beck
Deutsche Juden, jüdische Deutsche
07:52 Minuten
Shulamit Volkov
übersetzt von Ulla Höber
Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur GegenwartC.H. Beck, München 2022336 Seiten
28,00 Euro
Das ehrgeizige Projekt, drei Jahrhunderte deutscher Geschichte aus „jüdischer Sicht“ zu schreiben, gelingt der israelischen Historikerin Shulamit Volkov nur teilweise. Neben dem Nacherzählen von Bekanntem kommen tiefer gehende Analysen zu kurz.
Zu den beliebtesten Wortbausteinen von Sonntagsrednern zählte lange die Beschwörung einer „deutsch-jüdischen Symbiose“. Erst in jüngster Zeit scheint die Erkenntnis gedämmert zu haben, dass die Behauptung einer „Symbiose“ vage und kitschig ist und ein Gegensätzlichkeit suggerierendes „deutsch-jüdisch“ an der Lebensrealität zahlloser deutscher Juden eklatant vorbeigeht.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat sich deshalb mit ihrem Buch „Deutschland aus jüdischer Sicht“ viel vorgenommen – eine „andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ soll erzählt werden. Volkov, Autorin eines zu Recht gerühmten Buchs über Walther Rathenau, hat in der Tat ein Gespür für jene Ambivalenzen, die das Gerede von der „Symbiose“ weit hinter sich lassen.
Antisemitische Rhetorik und Gewalt
So etwa im Fall von Lessings berühmtem Freund Moses Mendelssohn, dessen aufklärerisches Denken mit jenem Kants in enger Verbindung steht. Doch musste sich auch Mendelssohn peinigender Zumutungen erwehren – so etwa gegen den seinerzeit berühmten Theologen Lavater, der ihm empfahl, das angeblich „atavistische“ Judentum hinter sich zu lassen und zum Christentum zu konvertieren.
Auch die späterhin idealisierte Revolution von 1848 kam nicht ohne antisemitische Rhetorik und Gewalttaten aus, und selbst ein erklärter „deutscher Liberaler und Patriot“ wie Eduard Lasker, der als preußischer Parlamentarier gegen die Todesstrafe und für die Unabhängigkeit der Justiz focht, wurde bis an sein Lebensende 1884 immer wieder von Bismarck verbal wüst attackiert.
Unbekannte Facetten deutscher Geschichte
Spannend wird es bei Shulamit Volkov immer dann, wenn sie es nicht bei der Nacherzählung des historisch Bekannten belässt, sondern Brüchen, Ungleichzeitigkeiten, ja auch Inkonsequenzen nachspürt. So sorgte sich zum Beispiel Walther Rathenau nach einer Reise in die damals kaiserlichen Kolonien Afrikas um das „negative Licht“, dass der „Umgang mit den Hereros“ auf Deutschland werfen könne, beließ es jedoch bei vorsichtigen Mahnungen – was ihn dann später in der Weimarer Republik dennoch nicht davor schützte, zum Hassobjekt der extremen Rechten zu werden.
Interessant sind die Beschreibungen der engagierten Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1859-1936) oder der Psychologin Käte Frankenthal, die in der Weimarer Republik gegen die gesetzlichen Verbote des Schwangerschaftsabbruchs und der Homosexualität kämpfte, 1933 als Linkssozialistin fliehen musste und 1976 hochbetagt mit 87 Jahren starb: bislang unbekannte Facetten deutscher (Demokratie-)Geschichte, über die man gern noch viel mehr erfahren hätte.
Warum fehlen Kaléko, Kracauer, Tucholsky?
Wenn es dann jedoch über die Schriftsteller und Intellektuellen der Weimarer Zeit heißt, „es war zweifellos eine beeindruckende Schar“, lässt sich ein ungutes Gefühl nicht mehr abschütteln: Ist die Autorin wirklich auf der Höhe des Themas? Wäre es, da ihr eine lange vernachlässigte weibliche jüdische Perspektive doch zu Recht so wichtig ist, nicht angemessen gewesen, auf die emblematischen Romanfiguren bei Vicki Baum oder auf die so schmerzlich lebensweisen Verse einer Mascha Kaléko wenigstens kursorisch einzugehen? Doch finden sich die beiden Frauen in diesem Buch ebenso wenig wie Kurt Tucholsky oder Siegfried Kracauer – dabei hatte doch gerade das feine Sensorium solch säkularer deutscher Juden unendlich Wichtiges über Deutschland zutage gefördert.
Auch nach dem Zivilisationsbruch der Shoah waren es jüdische Intellektuelle, die einen genauen Blick auf die Realität und die Lebenslügen der Bundesrepublik hatten: Hannah Arendt, Hans Sahl, Friedrich Torberg, Jean Améry (Letzterer dann auch in präziser Polemik gegen eine zunehmend antiisraelisch tönende „Neue Linke“).
Doch für solche Tiefenbohrungen scheint keine Zeit geblieben zu sein beim Abschreiten des sattsam Bekannten: Auschwitz-Prozess, Historikerstreit, Jenninger-Rede, Walser-Bubis-Debatte – seriöse Wissensvermittlung, wie sie indessen jedes gute Nachschlagewerk liefert.
Zu viele Leerstellen
Nichts dagegen über den vehementen Einspruch eines Ralph Giordano oder Wolf Biermann gegen Günter Grass´ ahistorisches Diktum, wegen Auschwitz sei die Wiedervereinigung unmöglich. Nichts Wesentliches zu den Debatten um den Golfkrieg 1991 oder 1995 nach dem serbischen Massaker von Srebrenica, bei dem nicht zuletzt jüdische Stimmen vor einem neutralistischen Wegducken gewarnt hatten. Auch, dass Intellektuelle wie Manès Sperber und Arthur Koestler zu Zeiten des Kalten Krieges die antitotalitäre Debatte vom Ruch des unreflektiert Antirussischen befreit hatten, scheint Shulamit Volkov vollständig entgangen zu sein.
Leerstellen dieser Größenordnung sind es, die das Buch gegen alle Erwartungen letztlich zu einer enttäuschenden Lektüre machen.