Eine Oper, die gar keine ist
Dirk von Lowtzow, Sänger der Band Tocotronic, hat mit René Pollesch eine Oper geschrieben, die eigentlich gar keine ist. "Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte" in der Berliner Volksbühne ist eine mal lustige, mal leidige Mogelpackung.
Beginnen wir mit dem Schönen: Der Regisseur René Pollesch mischt in dieser Arbeit nicht nur Genres, sondern auch einen Sänger mit drei Schauspielern, darunter Stars wie Martin Wuttke. Im Theater von Pollesch, das immer viel von Differenz erzählt, ist es deshalb schön, wenn sie auch mal vorgeführt wird. Verschiedener könnten diese Schauspieler nicht sein: der alte Pollesch-Profi Wuttke, der die lauten Theoriefetzen noch am deutlichsten gestaltet und in die Nähe der Hysterie rückt; die extraterrestrische Lilith Stangenberg, die auch ohne Lolita-Appeal etwas sehr Sonderbares, Psychedelisches performen kann; und Franz Beil, dessen bewusst dumpfe Puppenhaftigkeit am lustigsten ist, wenn er Philosophie zwar ernsthaft, aber intellektuell herausgefordert rezitiert. Solch ein Dreieck muss man erstmal haben, und dann muss man es wohl auch noch zulassen.
Der Titel ist nicht mehr als Lockstoff
Es gibt auch sonst genug Grund, hellhörig zu werden, wenn Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic mit dem Diskurstheatermann René Pollesch eine Oper schreiben will. Lowtzow ist sowas wie ein politisch korrektes Sexsymbol des deutschsprachigen Indierock. Das passt zu Pollesch, der seit 20 Jahren als Ideologie entlarven will, was man mit geschlechterpolitischen Mainstream so verbindet: Liebe, Ehe, Gefühle. Beide wohnen in Berlin-Prenzlauer Berg, wo Journalisten seit Jahren eine neue Bürgerlichkeit entdecken wollen. Beide stehen für das Gegenteil dieses unterstellten Biedermeiers, der angeblich Bildungsdünkel, Bio-Dinkel und Basteleien in die Innenstadt bringt.
Es passt fast zu gut, wenn die erste Arbeit von Pollesch und Lowtzow heißt wie die Debatte über Wohnraum: "Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte". Allein, der Titel ist nicht mehr als ein Lockstoff, etwa so, als würden wir behaupten, Theaterkritiken seien erotische Literatur mit Schlagseite zum Abstrafen (obwohl...). Der Abend handelt nicht von der Mietbremse. Und Oper? Zwar beginnt das Filmorchester Babelsberg mit einer Ouvertüre, dazwischen gibt es zweimal einen Kinderchor und am Schuss singt der Bariton Martin Gerke zwei kurze Lieder. Dirk von Lowtzow hat dem Arrangeur Thomas Meadowcroft auf der Gitarre vorgesungen. Das Werk erinnert an rhythmisch einfach gehaltene, eingängige Filmmusik. Ganz angenehm.
Parodistisch an die Oper angelehnt
Parodistisch an der Oper angelehnt sind die Gesten der drei Schauspieler: Martin Wuttke, Franz Beil und Lilith Stangenberg fuchteln mit den Armen. So wie Sänger, die von der Regie alleingelassen wurden. Das ist dann lustig, wenn auch die Texte hauen und stechen. Etwa wenn Lilith Stangenberg, in Zürich keine Unbekannte, das eigentliche Thema des Abends referiert: "Bringe ich mich selbst hervor? Oder nur Babys? Sie hören sicher schon heraus: Ich bin Biologin. Und hier sind wir auch bei dem, was ich betreiben möchte: eine neue Urgeschichte, eine neue Genesis."
Zum Zweck der zweiten Geburt spielt ein Wal allmählich die Hauptrolle. Die Schauspieler verschwinden in ihm und werden später mit etwas Schleim wieder ausgespuckt. Gerade so wie Jona in der Bibel, wo die Gechichte mit dem Riesenfisch an die Auferstehung Jesu und somit an die Stärke des Glaubens erinnert. Aber Pollesch ist nicht Kirchgänger geworden, die Gotteshäuser in Prenzlauer Berg sind auch ohne ihn wieder gut besucht. Die Schauspieler sprechen den Wal auf Bert Neumanns Bühne auch als Killerwal an, und ein bisschen Hai hat Neumann da auch ins Erbgut gemischt, als Echo auf Damien Hirsts Hai in Formaldehyd, einer Ikone für den kapitalistischen Exzess im Kunstmarkt. Pollesch ist schlau genug, dass er in jeder Geschichte der Neuerfindung auch neue Ideologien sieht.
Manche dämmern langsam weg
Und doch enttäuscht es, dass das Potenzial einer hochdotierten Zusammenarbeit fast allein vom Text ausgeht. Pollesch hat seinen Stiefel durchgezogen. Wir hoffen auf Selbstdistanz, wenn Franz Beil einmal sagt: "Und genau das waren meine Fragen damals", denn abseits von den Schöpfungsgeschichten wiederholt der Abend tatsächlich die Fragen aus dem Frühwerk von Pollesch. Wer Mitte der Neunzigerjahre im geisteswissenschaftlichen Seminar saß, dämmert langsam weg.
Dass Pollesch und von Lowtzow sich so ähnlich sind, dass sie sich gar nicht mehr für die Kunst des anderen zu interessieren scheinen, kann man als souveränen Akt deuten. Im Sinne von: Die Freiheit der Kunst beginnt in der Nicht-Zusammenarbeit. Das wäre die Freejazz-Interpretation (fragt der Saxofonist den Drummer: Was spielst du denn da? Sagt der Drummer: Geht dich überhaupt nichts an). Andererseits hätte ein bisschen mehr Durchdringung von Musik und Text auch von etwas mehr Achtsamkeit gezeugt, wer weiß: von Liebe? Um mit Pollesch zu reden, der mit Zizek und Lacan reden würde: Vielleicht bin ich gerade meinem Phantasma zu nahe gekommen. Sie verstehen, oder?