Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Ausgrabungen im Schatten eines neuen Krieges

10:09 Minuten
Auf dem Foto sieht man eine ausgehobene Grube, in der dutzende kleine Särge stehen. Ein Mann, ein sogenannter Umbetter, stellt einen weiteren sarg auf den Boden. Links der Grube ist ein Erdwall, rechts davon stehe Kreuze und Kränze.
Nach der Ausgrabung kommen die menschlichen Überreste der Kriegstoten in kleine Särge. Später werden sie bestattet wie diese Kriegstoten im April 2021. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Soeren Stache
Von Thomas Franke |
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Ein Krieg ist erst vorbei, wenn die letzten Toten bestattet sind, heißt es. Nahe der deutsch-polnischen Grenze graben Deutsche und Polen noch immer im Zweiten Weltkrieg Gefallene aus. Der Krieg in der Ukraine wirft für alle schmerzhafte Fragen auf.
"Wir haben da hinten eine Stelle, die mich interessieren würde, wo ich gerne mal mit dem Metalldetektor gucken würde. Da kann alles sein oder auch das, was wir denken: ein Gefallener", sagt Thomas Schock.
Er steht in einem Wäldchen in Kostrzyn nad Odra, zu Deutsch Küstrin. Schock ist Grabungsleiter beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Der Ort ist eineinhalb Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt, der Volksbund sucht hier nach Leichen aus dem Zweiten Weltkrieg. Bei Schock ist ein polnischer Helfer, der mit einem Detektor versucht, Metall im Boden aufzuspüren. Denn wo ein Helm liegt, ein Gewehr oder Munition, liegt oft auch ein Toter.
Wir stehen in einer Grube, die gut einen Meter tief ist. Hier werden Skelette freigelegt. "Wir sehen anhand dieser Bodenverfärbung, dass da was passiert ist", zeigt Schock auf den Boden, der an dieser Stelle dunkler ist. "Wir nennen das Leichenschatten, das ist unser Umbetter-Sprachgebrauch: Wenn ich ein Loch grabe und werfe das wieder zu, dann sieht die Erde anders aus, als wenn die noch von der Eiszeit unberührt liegt."
An dieser Stelle sei die Exhumierung schwierig, weil es sehr viele Wurzeln gebe. "Deswegen arbeiten sie hier mit Rosenscheren und legen die Skelette frei", erklärt er die Arbeit der Helfer. "Und dann muss von jedem Skelett eine Aufnahme gemacht werden."
In der sorgsam ausgehobenen Grube liegen die Knochen der toten Soldaten. Ihre Skelette sind vollständig, die Knochen weitgehend dort, wo sie hingehören.

Granatsplitter im Kopf

Am Schädel sehe man eine Trepanation, erläutert Schock. "Der hat eine Kopfverletzung gehabt, vielleicht ein Granatsplitter. Dann hat man den Schädel aufgemacht, hat den Splitter entnommen. Und wenn es gut geht, überlebt man das. Und wenn nicht, dann liegt man hier."
Es sind die Knochen deutscher Soldaten, gestorben und bestattet kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Thomas Schocks polnischer Kollege Tomasz Czanbanski kniet neben einen Schädel, wischt die Stirn frei.
Ein Mann und eine Frau arbeiten in einer ausgehobenen Grube. Unter anderem liegt ein Pinsel in der Grube bei einem gefundenen Schädel.
Helfer bei der Ausgrabung von Kriegstoten in Kostrzyn nad Odra. Wenn der Boden dunkler ist, deutet das darauf hin, dass ein Mensch dort begraben liegt.© Deutschlandradio / Thomas Franke
Bis jetzt sind hier 87 Gefallene gefunden worden. Wie viele Tote insgesamt unter den Bäumen liegen, weiß keiner. "Das ist Teil unserer Arbeit, dass wir versuchen, Schicksale noch zu klären." Für Angehörige sei das noch immer eine wichtige Nachricht.
Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Bilder von Tod und Zerstörung, holen bei vielen älteren Menschen die Erinnerungen an den Krieg wieder ins Bewusstsein. Auch bei Angehörigen der Vermissten, erklärt Diane Tempel-Bornett, die Pressesprecherin des Verbands Deutsche Kriegsgräberfürsorge. "Wir hatten relativ viele Rückmeldungen von Volksbund-Mitgliedern, die als Kinder den Krieg erlebt haben."
Und Schock ergänzt: "Wir haben Anfragen, ob die Friedhöfe in der Ukraine noch erhalten sind, ob die zerstört wurden. Es gibt immer wieder Geschichten, dass die Leute ein Blumengesteck ablegen lassen wollen. Dann gibt es Nachfragen, was ist jetzt mit meiner Grabsuche? Ihr hattet doch versprochen, meinen Vater zu finden."
In Kostrzyn nad Odra legen sieben Ortskräfte die Skelette frei. Die Helfer tragen schwarze T-Shirts mit der Aufschrift "Pomost", auch Grabungsleiter Czanbanski. "'Pomost' ist die Brücke", sagt er. Anfang der 90er-Jahre gegründet, sei das Ziel gewesen, eine Brücke zwischen Polen und Deutschen zu bauen, indem junge Polen ehemalige deutsche Friedhöfe in Westpolen säubern. "Wir müssen Frieden haben", sagt Czanbanski.

"Unsere Eltern haben überlebt"

Wie verändert das, was hier getan wird, den Blick der Deutschen auf Polen oder den Blick der Polen auf Deutschland? "Wenn wir in Polen arbeiten, erhalten wir von der polnischen Bevölkerung keine negativen Signale, da ist eine ganz andere Mentalität in der jungen Generation", so Czanbanski.
Verändert der laufende Krieg in der Ukraine Czanbanskis Blick? "Damals habe ich gesagt: Wir haben die Zweite-Weltkrieg-Generation, unsere Eltern haben überlebt, das geht nicht weiter", erinnert er sich an die frühen Tage von "Pomost". Jetzt sei klar: Krieg sei überall wieder möglich. "Schwere, schwere Tage sind das jetzt", sagt er nun mit Blick auf die Ukraine, aber die Brücke zwischen Polen und Deutschland bleibe ja. "Wir müssen alle etwas machen für den Frieden. Für die deutsch-polnische Versöhnung, für die Verständigung."
Die Leute von "Pomost" legen die Skelette nun mit Pinseln frei. Hier und da liegen kleine Knochen, Zehen oder Fingerkuppen neben den Skeletten.
"Jetzt haben wir die ersten Bilder von Massengräbern aus der Ukraine bekommen, auch schon mit der Anfrage, ob wir da helfen können bei der Grabsuche", berichtet Schock. Das habe es auch während des Jugoslawienkriegs gegeben. "Wir haben damals gesagt, wir machen das nicht. Das ist mental etwas ganz anderes."
Er selbst sei inzwischen 26 Jahre hauptberuflich beim Volksbund und habe vorher schon ehrenamtlich Jugendarbeit gemacht, sagt Schock: "Wir haben immer für den Weltfrieden gearbeitet", betont er. "Gerade mein Anliegen war die deutsch-russische Aussöhnung, meine Vorfahren kommen alle aus Ostpreußen. Wir haben da tolle Projekte gemacht und sind nun desillusioniert."
Der Krieg gegen die Ukraine sorgt beim Volksbund noch für andere Probleme: "Wir hoffen, dass unsere Arbeit weitergeht, wir haben ja russische Angestellte. Wir haben auch Ukrainer, die für uns arbeiten, und die sagen, das ist unser Broterwerb, wir können gar nichts anders. Lasst uns bloß wieder arbeiten."

"Das ist so schrecklich, das erdet einen"

Mittlerweile haben die Grabenden die Toten größtenteils freigelegt. Nun numerieren sie die Skelette, machen Fotos, beginnen, die Gebeine in Plastikwannen zu legen. 
"Diese Spannungsbreite ist so verrückt. Wir haben hier die Toten aus dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben das aktuelle Kriegsgeschehen. Wir haben Mitarbeiter mit ihren Wünschen, Nöten, mit ihren familiären Problemen", sinniert Schock. Vielleicht sollte jeder, der einen Krieg anfange, eine Woche beim Volksbund mitarbeiten: "Wenn man das vorher sieht, dann kommt man ein bisschen runter. Wenn man vor einem Massengrab mit Zivilisten und Kindern dazwischen steht – das ist so schrecklich, das erdet einen. Da wird man ein bisschen ruhiger", sagt Schock.

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