Volksentscheid

Eins zu Zwölf

Von Marina Schweizer |
1:12 heißt eine Initiative, die Managergehälter auf das Zwölffache dessen begrenzen will, was ein durchschnittlicher Arbeiter in demselben Unternehmen verdient. Nun stimmen die Schweizer über den Vorschlag ab.
Der Bahnhofsvorplatz von Bern, es ist 17 Uhr. Passanten strömen aus dem Bahnhof in alle Richtungen zur Tram, dick eingepackt, denn es ist klirrend kalt an diesem Novemberabend.
"Abstimmungsflyer?"
Mittendrin versucht eine Handvoll junger Leute um die 20, die Eiligen aufzuhalten. Mit freundlichem Lächeln und einem roten Faltblatt.
1:12 steht in weißen Lettern auf dem Flyer. So heißt die Initiative, über die die Schweizer am Wochenende in einem Volksentscheid abstimmen werden. Manager sollen nicht mehr verdienen dürfen als das Zwölffache eines Arbeiters in ihrem Unternehmen. Eine einfache, klare Kampagne zu einem komplexen Thema.
"Abstimmungsflyer?"
Viele Passanten nicken, nehmen den Flyer und gehen schnell weiter. Aber nicht alle. Ein Mann mit dicker Mütze und Brille will nicht überzeugt werden:
"Ich hab schon brieflich abgestimmt und bin dagegen. Ich finde, der Staat braucht sich da nicht einzumischen. Es ist eine Stärke der Schweiz, dass wir noch gewisse Freiheiten haben. Ich finde, der Staat braucht sich da nicht einzumischen."
Julian Rodriguez, ein 19-jähriger Abiturient mit dunklem Vollbart, kennt die Argumente der Gegner, aber er lässt sich nicht beirren. "Abzocker stoppen" heißt die Überschrift des Faltblatts, das er verteilt, und dahinter prangt ein dickes "Ja!"
Julian Rodriguez: "Man hat irgendwie das Gefühl in der Schweiz: Die Schweiz ist so reich, jeder kann sich ein gutes Leben leisten. Es ist eben nicht so! Es ist sehr ungleich verteilt. Und dagegen kämpfen wir mit dieser Initiative an: Dieser Umverteilungsgedanke: Dass auch die unteren Etagen genug Lohn erhalten, um ein würdiges Leben zu führen und nicht nur einfach die Manager sich Millionen nehmen und ein Luxusleben führen."
Plakat der Initiative 1:12 zur Begrenzung von Managergehältern
© Marina Schweizer
Die Initiative hat zu einer emotionalen Debatte in der Schweiz geführt. Lohndiktat vom Staat ‒ dieses Argument hört Jungsozialist Julian Rodriguez oft. Die Gegenkampagne hat sich ebenfalls gut aufgestellt und warnt: Jobs könnten ausgelagert werden, Steuern und Arbeitslosigkeit steigen.
Julian Rodriguez: "Die Gegner können sich diese Plakate leisten, die sind zu teuer für uns. Darum flyern wir ‒ kommt billiger und man ist gleich auf der Straße, es ergeben sich immer spannende Gespräche und das ist das Reizvolle, auch wenn es jetzt etwas zu kalt ist."
Ein paar Tausend Freiwillige wie Rodriguez sind in der Schweiz für die Pro-1:12-Kampagne in den Kantonen unterwegs, verteilen Infomaterial, stoßen Aktionen an.
Nur ein paar Gehminuten vom Hauptbahnhof in einem grauen Kastengebäude liegt die Schaltzentrale der landesweiten 1:12-Initiative – im Büro des Schweizer Gewerkschaftsbundes.
Marco Kistler: "So, das ist der Kern der Kampagne, in diesem kleinen Zimmer."
Es ist ein schmuckloser Raum, kaum 15 Quadratmeter groß, auf ein paar Schreibtischen liegen Smartphones, stehen Laptops und leere Wasserflaschen. Von hier aus koordinieren an diesem Abend drei Mitarbeiter den Endspurt der Freiwilligen: Wer macht wann was? Haben alle die gleichen Infos? Braucht jemand Material? Ein Poster an der Wand mit handgekritzelter Tabelle verschafft den Überblick.
"Das sind die Kantone hier, da sieht man ein bisschen…"
Mitten in der Schaltzentrale steht Marco Kistler, ein schmaler junger Mann mit zerknittertem Hemd und Jeans. Er gilt als Erfinder der Initiative in der Schweiz, auch wenn er das bescheiden abtut. Seine dunklen Augenringe und der stoppelige Bart deuten darauf hin: Viel Schlaf ist für ihn seit Wochen nicht drin. Und das alles, weil seine Idee jetzt national Karriere macht. Kistler geht es mit der Lohnaufteilung 1:12 ums Prinzip:
"Der Top-Manager kann nicht arbeiten, wenn sein Büro nie geputzt wird oder wenn er nichts zu Mittag essen kann und da sollen auch die Früchte der Arbeit gerechter verteilt werden, als es jetzt der Fall ist. Und ich denke, das ist die Grundmotivation: Ja, man sagt den Leuten ja auch: Schau, du verdienst 500 Mal weniger als ich, du bist 500 Mal weniger wert. Und ich denke, das ist etwas, das nicht gut ist für eine Gesellschaft."
Der junge Aktivist erzählt engagiert davon, wie viele Menschen in der Schweiz genug davon haben, dass die Lohnschere immer weiter auseinandergeht. Dabei will er nicht zusehen. Mittlerweile ist der 29-Jährige über die Landesgrenzen hinweg als kreativer politischer Kopf bekannt:
"Man muss sich einfach trauen, manchmal ein Thema von der radikaleren Seite anzugehen und auch grundsätzliche Veränderungen vorzuschlagen. Ich denke, viele Leute haben auch genug, dass man sagt: Ja, man dreht da ein bisschen an einer Schraube und dann verändert sich vielleicht ein bisschen etwas. Sondern dass man auch mal wirklich irgendwann mal sagt: Jetzt ist es genug, wir wollen auch mal wieder in eine andere Richtung gehen."
Das heißt, es geht nicht um mehr, sondern um weniger. Verdienste von Managern sollen in ein angemessenes Verhältnis zum Rest der arbeitenden Bevölkerung gesetzt werden, nämlich in das Verhältnis 1:12. Kistler und seine Kollegen im Kampagnenbüro gehen davon aus, dass weniger als 5.000 Großverdiener überhaupt betroffen sein werden und verweisen auf einschlägige Studien. Aber der Symbolcharakter einer solchen Entscheidung wäre wegweisend.
Also geht es jetzt im Endspurt darum, die Menschen an die Urnen zu bringen. Wie es nach dem Sonntag weitergeht? Erst einmal schlafen, grinst Kistler müde. Egal, wie es ausgeht: Er wird auf jeden Fall mit dem Thema weitermachen:
"Sollten wir gewinnen, geht es um die Umsetzung. Sollten wir verlieren, ist das Problem nicht vom Tisch und die Leute werden sich weiter darüber ärgern und da werden wir am Ball bleiben. Möglicherweise auch mit anderen Vorschlägen."
An Ideen mangelt es dem jungen Aktivisten nicht. Und er ist auch ein bisschen stolz darauf, dass mittlerweile auch in anderen Ländern ernsthaft über 1:12 diskutiert wird:
"Das freut uns natürlich, weil schlussendlich ist das ein globales Thema und nicht auf Nationalstaaten bezogen."
Kistler verschwindet in der nächsten Sitzung. Unten auf der Straße im Zentrum von Bern zeigt sich: Die Initiative hat sich auch ins Stadtbild eingeschlichen.An einigen Fenstern und Balkonen hängen rote Bekennerfahnen, 1:12 steht darauf. Zwei schlichte Zahlen mit Signalwirkung.
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