Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (ARTE/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.
Rettet Bürgerbefragung die Demokratie?
In Hamburg ist ein Referendum über die Olympiabewerbung geplant und in Brandenburg machen Aktivisten gegen Massentierhaltung mobil - Bürger machen sich stark für die direkte Mitbestimmung. Der Journalist Max Thomas Mehr allerdings ist gegen diese Art der Basisdemokratie.
Parteien verlieren Mitglieder, Zeitungen Auflagen und Bürger gehen nicht zur Wahl. Die Beziehungen zwischen Politik und Gesellschaft scheinen gestört.
Das Wahlrecht sei zu kompliziert, vermutet die Union. Die Urne im Supermarkt könnte Abhilfe schaffen, meint die SPD. Eine elektronische Stimmabgabe empfiehlt die FDP. An Volksentscheide glauben Grüne und Linke. Nur die Piraten setzen auf die Netzgemeinde.
Denn von dort wird die Demokratie derzeit aufgemischt – eben nicht analog, sondern digital. Mit Klick- und Smiley lassen sich Voten über virtuelle Schwärme zu heftigen Meinungsstürmen aufwirbeln. Was früher der beschauliche Ortsverein einer Partei war, sind heute die schnellen sozialen Medien.
Wer etwas erreichen will, strebt nicht mehr nach Mehrheiten auf Parteitagen, sondern trommelt im Netz für Bürger- und Volksentscheide. Das erspart dem Aktivisten den langen Marsch durch die Institutionen und garantiert volle Aufmerksamkeit der politischen Elite.
Neue APO kämpft für Kirchturmpolitik
Mehr als dreißig Mal wurden beispielsweise die Berliner in den letzten zehn Jahren aufgerufen, mit Ja oder Nein höchst selbst über kommunale Streitfragen zu entscheiden. So lehnten sie es ab, dass am Rande des ehemaligen Stadtflughafens Wohn- und Gewerbequartiere gebaut werden. Also bleibt das Tempelhofer Feld ein Grüngelände für Freizeitaktivitäten aller Art.
Ein nächster Volksentscheid will preiswerten Wohnraum erzwingen, ein weiterer für mehr Lehrer sorgen, und schließlich soll eine Bürgerversammlung über die Gestaltung der historischen Mitte der Stadt befinden.
Nichts gegen Stimmungsbilder oder Bürgerbeteiligung. Was sich an diesen Beispielen zeigt, ist vor allem eines: gutorganisierte pressure-groups nehmen die parlamentarisch organisierte Demokratie in die Zange. Sie umgehen eine Entscheidungskultur, die durch "checks and balances" austariert ist.
Die neue außerparlamentarische Opposition schmeißt keine Steine, sie mobilisiert über Facebook&Co. und sammelt Unterschriften. Sie tut, wofür sie Lobbyisten aus den Verbänden prügeln würde. Altgewordene Maoisten und linksautonome Hedonisten haben ihre Liebe zur Kirchturmpolitik entdeckt und finden sich Arm in Arm mit Freunden der Gartenzwerge. Gemeinsam kämpfen sie um jede Pappel und Brache, die einem Neubau weichen sollen.
Diese Art Politik zu machen, ist einfach. Es braucht keine Ideologie und niemand muss ein besserer Mensch werden. Ein "gefällt-mir" oder eine Unterschrift genügen. Das St.-Florians-Prinzip funktioniert, ob gegen Stromtrassen in Bayern oder auch gegen Flüchtlinge in Sachsen.
Parteien fehlt führungsstarkes Personal
Wer erwartet, dass die Parteien kluge Argumente den meist partikularen Interessen entgegensetzen, reibt sich verwundert die Augen. Eilfertig gehen sie auf die Initiatoren ein – aus Furcht vor dem inszenierten Sturm der Entrüstung. Ihnen fehlt überzeugendes, führungsstarkes Personal.
Die alte APO dürfte sich im Grab umdrehen. Sie wollte sich und Vietnam befreien, eine verkrustete Parteiendemokratie aufbrechen und eine selbstreflexive Gesellschaft anstoßen. Eine Gesellschaft also, die über sich nachdenkt und mit sich ringt, wie sie ihre – zuweilen widerstreitenden – Ansprüche einlösen kann.
Heute scheint das Pendel umzuschlagen. Die neue APO ist vor allem egoistisch und will Recht haben. Dafür spielt sie mit Emotionen. Für den demokratischen Diskurs und für einen Ausgleich der Interessen engagiert sie sich nicht.
Um den aber sollen sich die Parteien kümmern. So sieht es das Grundgesetz vor. Sie sollen die Kärrnerarbeit leisten, Foren politischer Willensbildung schaffen, immer wieder das Pro und Contra in Sachfragen mit politischer Vernunft abwägen und am Gemeinwohl prüfen.
Volksentscheide, wie sie Berlin erlebt, retten weder Parteien noch Demokratie. Sie retten nur den eigenen Kirchturm.