Volksentscheide

Ein arg verkürzter Demokratiebegriff

Von Markus Reiter · 24.02.2014
Volksentscheide sind nicht das Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Tatsächlich liegt ihnen ein fragwürdiger Demokratiebegriff zugrunde - nicht immer ist das, was die Mehrheit will, demokratisch richtig.
Manche Lösungen klingen einfach. Zum Beispiel diese: Wenn die Bürger endlich mehr mitbestimmen könnten, wenn mehr Volksbegehren und Volksentscheide gäbe, wäre die Verdrossenheit mit Politik und Politiker schnell kuriert. Dabei wird ein arg verkürzter Demokratiebegriff in die Debatte gebracht. Er lautet: Es solle gemacht werden, was die Mehrheit will. Und damit basta!
Diese Position konnte man vor einigen Wochen bei vielen Schreibern in den Internetforen deutscher Nachrichtenportale wiederfinden, nachdem die Mehrheit der kroatischen Wähler in einer Volksabstimmung das Verbot der Homo-Ehe in der Verfassung verankert hatte. Jetzt hätten die Kroaten in ihrer Mehrheit entschieden und deshalb gebe es nichts mehr herumzumäkeln.
Würde man die Russen über die Gesetze zur Schwulenverfolgung in ihrem Land oder über die Diskriminierung von Menschen aus dem Kaukasus abstimmen lassen, würde sich vermutlich eine Mehrheit dafür finden. Diese Positionen lassen sich dennoch nicht mit unseren Werten vereinbaren.
Es gibt Grenzen der Volksherrschaft
Das Grundgesetz beschreibt die Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland bewusst nicht ausschließlich als Demokratie. Vielmehr ist vom freiheitlich demokratischen Rechtsstaat die Rede. Es darf eben nicht alles, was das Volk in seiner Mehrheit will, umgesetzt werden.
Zwei Grenzen der Volksherrschaft kennt die Verfassung: Zum einen schützt sie die Freiheit des Einzelnen, nicht nur vor staatlicher Willkür, sondern eben auch vor dem Zugriff anderer, eben auch der Mehrheit. Zum Beispiel auf die Grundrechte, vornehmlich die Würde des Menschen und die Unverletzlichkeit der Person.
Die zweite Beschränkung ist die Rechtsstaatlichkeit. Alle Teile der Gesellschaft, auch die Mehrheit, sind an Recht und Gesetz gebunden. Und alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Auch diese Bindung schützt die Freiheit des Einzelnen vor Willkür. Denn Mehrheiten sind wankelmütig.
Volksabstimmungen bedeuten mangelnde Verantwortlichkeit
Es geht nicht nur um die mangelnde Einsichtsfähigkeit, die Verführbarkeit der Massen, um die ungleiche Verteilung von Urteilsvermögen und die Tatsache, dass Arme und Ungebildete seltener an Abstimmungen teilnehmen als Wohlhabende und Gebildete.
In erster Linie bedeuten Volksabstimmungen einen Mangel an Verantwortlichkeit. Wo Mehrheiten entscheiden, gibt es niemanden, der am Ende dafür gerade steht.
Wir wissen aus vielen psychologischen Experimenten: Menschen stimmen schlimmen Unrechtstaten zu, wenn sie sich als Teil der Mehrheit fühlen. Sie sind sogar bereit, sich daran zu beteiligen. Weil es nämlich alle machen, verspürt der Einzelne keine persönliche Verantwortung. Wenn die Zustimmung anonym erfolgt, leugnen viele am Ende allerdings, dass sie zugestimmt haben.
Der griechische Geschichtsschreiber Polybios bezeichnete die Kehrseite der Demokratie als Ochlokratie, als Herrschaft des Pöbels. Er steht damit in der Tradition von Platon und Aristoteles, die diese Gefahr ebenfalls erkannten. Sie zogen jedoch unterschiedliche Konsequenzen aus dieser Ambivalenz. Platon setzte auf eine Herrschaft der Philosophen. In seiner gesellschaftlichen Utopie regieren weise Führer, die aus einem strengen Auswahlverfahren hervorgegangen sind.
Das Augenmaß nicht verlieren
Aristoteles hingegen nennt die gute Demokratie "Politeia". Obschon er Sklaven und Besitzlose ungleich behandelt, was zumindest aus heutiger Sicht fragwürdig ist, arbeitet er dennoch klar heraus: Die Volksherrschaft kippt dann in eine Willkürherrschaft, wenn sie ihre Bindung an Recht und Gesetz verliert.
Deshalb darf die Gesellschaft in ihrer Euphorie über plebiszitäre Elemente das Augenmaß nicht verlieren. Die direkte Demokratie hat ihre dunklen Seiten. Die Mehrheit der Bürger mag über einen Bahnhof entscheiden, die Mehrheit der Parteimitglieder über das Schicksal eines Koalitionsvertrags bestimmen. Aber über Freiheit und Menschenwürde jedes Einzelnen darf keine Mehrheit verfügen.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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