Volksentscheide sind organisierte Verantwortungslosigkeit
Der Ruf nach Volksentscheiden und Bürgerbeteiligung ist populär geworden. Kaum ein Politiker wagt es noch, ihren Sinn in Frage zu stellen oder nachzuhaken, ob die damit verbundenen Hoffnungen realistisch sind.
Die wenigen, die es dennoch tun, bringen ein unzureichendes Argument vor. Das Volk, so sagen sie, sei mit den komplexen Problemen moderner Gesellschaften überfordert. Es müsse deshalb die Entscheidungen darüber an Volksvertreter delegieren, die Politik als Beruf ausübten, und deshalb die Zeit hätten, sich sachkundig mit diesen Problemen zu befassen. Das ist - mit Verlaub - Unsinn.
Der durchschnittliche Parlamentarier weiß über die allermeisten Fragen, in denen er Entscheidungen fällt, nicht mehr als ein durchschnittlicher Zeitungsleser oder ein aufmerksamer Hörer des Deutschlandradios. Politiker werden nicht gewählt, weil sie Fachexperten sind, sondern weil sie Politiker sind.
Das heißt: Sie organisieren Macht, was in parlamentarischen Demokratien bedeutet, Kompromisse auszuhandeln und dafür Mehrheiten zu beschaffen. Scheitern sie oder erweisen sich ihre Entscheidungen als falsch, müssen sie die Verantwortung dafür übernehmen und werden abgewählt. Der Sozialphilosoph Karl Popper hat das einmal in der pragmatischen Definition zusammengefasst, Demokratie sei die Möglichkeit, seine Regierung unblutig loszuwerden.
Volksentscheide und Bürgerbefragungen hingegen sind die organisierte Verantwortungslosigkeit. Wenn etwas schief geht, will niemand die Verantwortung übernehmen. Das Volk kann ja nicht zurücktreten – und es sucht in der Regel die Schuld bei anderen. Zumal sich schnell Ausreden finden lassen. Das Volk sei ja, heißt es dann, von den Politiker betrogen worden. Es sei falsch oder unzureichend aufgeklärt worden. Hätte man gewusst, wie alles endet, hätte man anders entschieden.
Ein Beispiel dafür ist die Dresdner Waldschlösschen-Brücke. Dieses Projekt der Elbüberquerung kostete die Stadt den Titel des Weltkulturerbes. Heftiger und lautstarker Protest der Bürger machte sich Luft. Nur: Fast 70 Prozent der Dresdner hatten sich 2005 in einem Bürgerentscheid für den Bau der Brücke ausgesprochen. Die Wahlbeteiligung lag bei über 50 Prozent.
Das vorhersehbare Argument der Brückengegner: Die Wähler seien von den Politikern belogen worden. Somit habe das Volk unter falschen Voraussetzungen abgestimmt. Der Bürgerentscheid in Dresden konnte die Lage nicht beruhigen, weil er auf ein Ja-Nein hinauslaufen musste. Brücke oder keine Brücke. Oder, wie im anstehenden Fall Stuttgart 21, unterirdischer Bahnhof oder kein unterirdischer Bahnhof. Am Ende ist eine Gruppe der Verlierer und fühlt sich hintergangen.
Im oft gepriesenen Mutterland der direkten Demokratie, der Schweiz, wird nicht weniger über Politikverdrossenheit diskutiert als bei uns. Die Schweizerische Volkspartei profiliert sich dabei als rechtspopulistische Protestpartei gegen die etablierten Politiker, wie ähnliche Bewegungen in vielen anderen Ländern Europas. Sie verspricht, was Politik niemals liefern kann: einfache Lösungen.
Politik bedeutet aber das starke, lange Bohren von dicken Brettern mit Augenmaß und Leidenschaft, um einen Kompromiss der Interessen auszuhandeln. So lautet das berühmte Diktum des Soziologen Max Weber aus seinem Vortrag "Politik als Beruf". Bürgerbeteiligung und Volksentscheide verlangen von den Bürgern mehr Mühsal, mehr Geduld fürs Bretterbohren, als die meisten von ihnen bereit und in der Lage sind aufzubringen.
Mag sein, dass in dem einen oder anderen Fall Volksentscheide und Bürgerbeteiligung dennoch eine sinnvolle Ergänzung zur repräsentativen Demokratie darstellen. Aber eines sind sie mit Sicherheit nicht: Ein Mittel gegen die Politikverdrossenheit. Im Gegenteil. Politiker würden dann nicht nur für die eigenen, sondern auch für die Fehlentscheidungen der Wähler verantwortlich gemacht, während sich der angeblich mündige Bürger in die Verantwortungslosigkeit stiehlt.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und an der FU Berlin. Unter anderem war Feuilletonredakteur der FAZ und schrieb Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
Der durchschnittliche Parlamentarier weiß über die allermeisten Fragen, in denen er Entscheidungen fällt, nicht mehr als ein durchschnittlicher Zeitungsleser oder ein aufmerksamer Hörer des Deutschlandradios. Politiker werden nicht gewählt, weil sie Fachexperten sind, sondern weil sie Politiker sind.
Das heißt: Sie organisieren Macht, was in parlamentarischen Demokratien bedeutet, Kompromisse auszuhandeln und dafür Mehrheiten zu beschaffen. Scheitern sie oder erweisen sich ihre Entscheidungen als falsch, müssen sie die Verantwortung dafür übernehmen und werden abgewählt. Der Sozialphilosoph Karl Popper hat das einmal in der pragmatischen Definition zusammengefasst, Demokratie sei die Möglichkeit, seine Regierung unblutig loszuwerden.
Volksentscheide und Bürgerbefragungen hingegen sind die organisierte Verantwortungslosigkeit. Wenn etwas schief geht, will niemand die Verantwortung übernehmen. Das Volk kann ja nicht zurücktreten – und es sucht in der Regel die Schuld bei anderen. Zumal sich schnell Ausreden finden lassen. Das Volk sei ja, heißt es dann, von den Politiker betrogen worden. Es sei falsch oder unzureichend aufgeklärt worden. Hätte man gewusst, wie alles endet, hätte man anders entschieden.
Ein Beispiel dafür ist die Dresdner Waldschlösschen-Brücke. Dieses Projekt der Elbüberquerung kostete die Stadt den Titel des Weltkulturerbes. Heftiger und lautstarker Protest der Bürger machte sich Luft. Nur: Fast 70 Prozent der Dresdner hatten sich 2005 in einem Bürgerentscheid für den Bau der Brücke ausgesprochen. Die Wahlbeteiligung lag bei über 50 Prozent.
Das vorhersehbare Argument der Brückengegner: Die Wähler seien von den Politikern belogen worden. Somit habe das Volk unter falschen Voraussetzungen abgestimmt. Der Bürgerentscheid in Dresden konnte die Lage nicht beruhigen, weil er auf ein Ja-Nein hinauslaufen musste. Brücke oder keine Brücke. Oder, wie im anstehenden Fall Stuttgart 21, unterirdischer Bahnhof oder kein unterirdischer Bahnhof. Am Ende ist eine Gruppe der Verlierer und fühlt sich hintergangen.
Im oft gepriesenen Mutterland der direkten Demokratie, der Schweiz, wird nicht weniger über Politikverdrossenheit diskutiert als bei uns. Die Schweizerische Volkspartei profiliert sich dabei als rechtspopulistische Protestpartei gegen die etablierten Politiker, wie ähnliche Bewegungen in vielen anderen Ländern Europas. Sie verspricht, was Politik niemals liefern kann: einfache Lösungen.
Politik bedeutet aber das starke, lange Bohren von dicken Brettern mit Augenmaß und Leidenschaft, um einen Kompromiss der Interessen auszuhandeln. So lautet das berühmte Diktum des Soziologen Max Weber aus seinem Vortrag "Politik als Beruf". Bürgerbeteiligung und Volksentscheide verlangen von den Bürgern mehr Mühsal, mehr Geduld fürs Bretterbohren, als die meisten von ihnen bereit und in der Lage sind aufzubringen.
Mag sein, dass in dem einen oder anderen Fall Volksentscheide und Bürgerbeteiligung dennoch eine sinnvolle Ergänzung zur repräsentativen Demokratie darstellen. Aber eines sind sie mit Sicherheit nicht: Ein Mittel gegen die Politikverdrossenheit. Im Gegenteil. Politiker würden dann nicht nur für die eigenen, sondern auch für die Fehlentscheidungen der Wähler verantwortlich gemacht, während sich der angeblich mündige Bürger in die Verantwortungslosigkeit stiehlt.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und an der FU Berlin. Unter anderem war Feuilletonredakteur der FAZ und schrieb Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de