Volkswagen in der Krise

Ein beängstigendes Betriebsklima

Ein mit Laub bedecktes Autos vom Hersteller Volkswagen (VW) Typ Golf 3 parkt in Hamburg.
Ein mit Laub bedecktes VW-Auto © dpa / picture alliance / Daniel Bockwoldt
Von Erik von Grawert-May · 03.11.2015
Dass Volkswagen wegen seiner Schummelsoftware in einen beispiellosen Skandal geschlittert ist, ist hausgemacht. Eine fehlende Kritikkultur im Konzern sei Schuld daran, meint der Ethiker Erik von Grawert-May. Doch es geht auch anders - und Mythen weisen den Weg.
Jetzt, da es zu spät ist, ist es in aller Munde: Martin Winterkorn sei ein Despot gewesen. Wer sich dem früheren VW-Chef widersetzte, soll, wenn es hoch kam, angeschrien und klein gemacht worden sein. So klein, dass er vor lauter Sorge um sich selber künftig gekuscht habe – kein günstiger Boden für Kritik. Die aber tut not, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht.
Nach den bisherigen Erkenntnissen muss der Software-Trick oben in der Hierarchie bekannt gewesen sein. Man weiß auch, dass kein Entwicklungsingenieur auf unteren hierarchischen Stufen für die Entscheidung verantwortlich gewesen sein konnte. Für die Ausführung dann schon.
Doch wird niemand bei dem herrschenden Betriebsklima aufgemuckt haben, selbst wenn er gewollt hätte. Wo sich trotzdem jemand mit einer Warnung vorwagte, versickerte sie auf dem Dienstweg nach oben.
Gäbe es nicht ein eklatantes Gegenbeispiel, würde man die Führungskultur von VW als notwendiges Übel großer Konzerne betrachten. 600 000 Mitarbeiter in 120 Fabriken weltweit haben ihren Preis. Da scheint eine durchgängige hierarchische Struktur schon deshalb unerlässlich, weil sonst der große Apparat kaum zu bewegen wäre.
Warnungen in der Führungsetage ernst nehmen
Indes der weltweit größte Chip-Produzent demonstrierte in seiner relativ kurzen Geschichte bereits erfolgreich, wie eine Organisation von seinem Ausmaß die eigenen Mitarbeiter so weiterbilden kann, dass sie bei Gefahr im Verzug Alarm schlagen.
Bei Intel obliegt diese Aufgabe in aller Regel denen, die im Außendienst tätig sind, weil sie engen Kontakt zu den Kunden halten. Ihre Warnungen werden von der Führungsetage nicht nur ernst genommen, sie werden – man kann fast sagen – systematisch geschürt. Eine solche Methode würde hierzulande mit Sicherheit verschmäht.
Der Vorstand kultiviert eine künstliche Form der Paranoia. Sie besteht darin, sich ständig folgende Fragen zu stellen: Wer sind unsere Konkurrenten; sind wir noch auf dem neuesten Stand der Technik; gibt es Kunden, die zu anderen Unternehmen abwandern und so weiter.
Im Bestfall leidet jeder Mitarbeiter quasi an einer Verfolgungsangst, die ihn davor bewahren soll, stets lauernde Gefahren zu übersehen und zu bequem zu werden. Meist ist es der Erfolg, der träge macht.
Das umgekehrte Pendant zur Paranoia ist die Paralyse: Die Leute sind gelähmt, weil sie sich zu sicher fühlen. Doch auf Märkten, zumal in globalem Maßstab, ist nichts sicher. Gerade Intel hat das spüren müssen.
In Krisenzeiten werden hierarchische Strukturen gekippt
Daraus, aus einer Krise, ist das unternehmenspsychologische Konzept hervorgegangen. Es ist kein Allheilmittel, auch nicht gegen neuerliche Abstürze, aber es scheint am ehesten geeignet, einen Ausweg zu finden, eine Kehrtwende einzuleiten.
Intel nennt es die 'konstruktive Konfrontation'. In Krisenzeiten kündigt der Konzern hierarchische Strukturen auf, behandelt jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter betont kollegial. Jeder darf, jeder soll seine Meinung äußern, gerade auch dann, wenn sie Kritik enthält.
Einzige Voraussetzung: Sie muss zum Gedeihen des Unternehmens beitragen. Hat das Unternehmen aus dem Tal der Ausnahmesituation herausgefunden, treten die alten Strukturen wieder in Kraft.
Andrew S. Grove, einst Vorstandschef bei Intel, ist dieses Konzept zu danken. Er war 1956 aus Ungarn geflohen. Wahrscheinlich war er mit europäischen Mythen vertraut und hat an den griechischen Arthriden-Mythos gedacht. Darin sagt Kassandra immer unangenehme Wahrheiten voraus, muss aber dafür mit dem Tod bezahlen.
Bei Grove muss sie und darf sie das nicht. Sie soll weiterleben, um dem Unternehmen beim Überleben zu helfen. Auch Volkswagen brauchte eine solche Kassandra, damit der deutsche Konzern in Zukunft Warnungen nicht in den Wind schlägt.
Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Unternehmensethiker, lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichungen "Die Hi-Society" (2010), "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011), "Theatrum Belli" (2013). www.grawert-may.de
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