Vom Atom-U-Boot zum Altmetall

Von Andrea Rehmsmeier |
Die Nordmeerflotte war einst der Stolz der Sowjetunion. Mit ihren Nuklearsprengköpfen waren die fast 200 Atom-U-Boote die kraftstrotzenden Vehikel der Massenvernichtung. Heute bedroht ihr radioaktives Erbe die reichen Fischgründe in der Barentssee.
Durch die schneebedeckte Tundra patrouillieren Soldaten, in kleinen Wolken steigt ihr Atem in die arktische Luft. Hier, nördlich des Polarkreises, wo es im Winter nicht hell wird und im Sommer nicht dunkel, liegen die Heimathäfen der legendären Nordmeerflotte. Zu Sowjetzeiten war sie das Rückrat der nuklearen Landesverteidigung, die größte atomar betriebene U-Boot-Flotte der Welt. Bis heute sind auf der Kola-Halbinsel weite Regionen der Nordküste als militärisches Sperrgebiet vor der Öffentlichkeit abgeriegelt. Ausländische Journalisten bekommen nur in Ausnahmefällen eine Zutrittsgenehmigung - nach einem monatelangen behördlichen Verfahren und Personenüberprüfung durch den Geheimdienst.

Der Kleinbus kämpft sich über die schneeverwehten Straßen. Detlef Mietann und Lutz Riemann sind auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Seit einer Stunde fahren sie von der Gebietshauptstadt Murmansk kommend durch die arktische Einöde. Dann, von einer Anhöhe herab, gibt die Küstenstraße den Blick plötzlich frei: Vor der Windschutzscheibe erstreckt sich die Barentssee - Eisschollen, die in trübem Wasser schaukeln.

Am Fuße der felsigen Steilküste liegt eine Bucht. Ein halb gesunkenes Schiffswrack dümpelt im Wasser. Auf dem schmalen Uferstreifen stehen Krananlagen und Industriegebäude, an den Docks liegen riesige Schiffe vor Anker. Die Nerpa-Werft, sagt Lutz Riemann. Eine Militäranlage. Absolutes Fotografierverbot:

"Das hier sind die Eisbrecher-Flotten der Russischen Föderation, die hier auf den nördlichen Seeweg Richtung Sibirien, Richtung Kamtschatka freifahren. Praktisch die ganze nördliche Fahrt durch das nördliche Eismeer. Kara-See, sibirische See, bis hin nach Kamtschatka. Wo die großen Städte angefahren werden, die am Nordpolar-Meer liegen …"

Die nuklear-getriebenen Eisbrecher werden auch im modernen Russland gebraucht. Die große Zeit der U-Boot-Flotte aber ist vorbei: Gerade mal 20 von ehemals 200 sollen heute noch im Militäreinsatz sein. In der Nerpa-Werft wird das Schicksal der übrigen besiegelt. Hier werden sie in ihre Einzelteile zerlegt. Der stark strahlende Rumpfteil mit dem Nuklearantrieb wird herausgeschnitten. Die Zerlegung der U-Boote ist Teil eines hoch gelobten, internationalen Abrüstungsprojekts, die Abwrackung der Nordmeerflotte.

Eine Viertelstunde später ist der Kleinbus am Ziel: die Saida-Bucht, im Nordwesten der Kola-Halbinsel. Die Energiewerke Nord GmbH, bei der Lutz Riemann und Detlef Mietann angestellt sind, unterhält hier ein eigenes Gewerbegebiet. Der Boden, auf dem es errichtet ist, ist ganz und gar ebenerdig - wie ein Schwimmbecken, sauber herausgestanzt aus der felsigen Landschaft.

Was aussieht wie eine weitläufige Betonplattform, ist in Wirklichkeit ein Langzeitzwischenlager von fünfeinhalb Hektar Ausmaß für die stark strahlenden Mittelteile der U-Boot-Rümpfe - die Reaktorsektionen, wie sie im Fachjargon heißen. 40 Tonnen stehen bereits auf der Plattform und lassen ihre Radioaktivität vom Polarwind verwehen - jede von der Größe eines Einfamilienhauses, mit zwei Atomreaktoren im Inneren. Einige dieser Metallkolosse sind mit einer Spezialabschirmung versehen - gegen die Radioaktivität, die aus ihrem Inneren strahlt:

"Das ist an verschiedenen Reaktorsektionen auch unterschiedlich. An dem zweiten von der Marinewerft, da ist der Bereich hier stark hochgezogen. In diesem Bereich war die Strahlung noch sehr stark. Und deswegen musste die Betonabschirmung in diesem Bereich sehr hochgezogen werden, um die zulässige Dosisleistung an der Oberfläche der Reaktorsektionen zu gewährleisten. Da wo kaum Strahlung war, brauchten wir auch nicht groß schirmen."

Am Horizont, wo sich die Barentssee als glatte Eisfläche erstreckt, ragen weitere Bootsteile aus dem Eiswasser und warten darauf, an Land gehievt zu werden. Äußerlich haben die rostigen Metallkolosse nur wenig Ähnlichkeit mit den bereits dekontaminierten und frisch beschichteten Reaktorsektionen auf der Betonplattform an Land. Die zerfallenden, radioaktiven U-Boot-Rümpfe lassen ahnen, welch monströse Probleme in den anderen Küstenregionen auf die internationale Staatengemeinschaft warten: Viele Gegenden sind so verstrahlt, dass hier niemand Zutritt hat - abgesehen von den an den Aufräumarbeiten beteiligten Wissenschaftlern und Arbeitern.

Soviel internationale Solidarität bei der Beseitigung von Atommüll wie bei diesem Abrüstungsprojekt hätte zu Zeiten des Kalten Kriegs wohl niemand vorauszusagen gewagt - nicht einmal der Mann, der Anfang der 90er-Jahre den Stein ins Rollen gebracht hat: Aleksandr Nikitin, früher U-Boot-Kapitän bei der Nordmeerflotte, heute Umweltaktivist. Er besucht die Saida-Bucht regelmäßig, um sich vom Fortgang der Abwrack-Arbeiten ein Bild zu machen:

"Ehrlich: Ich bin begeistert von dem Abrüstungsprojekt in der Saida-Bucht. Früher war das alles eine Tragödie - der ökologische Zustand der Kola-Halbinsel war katastrophal. Heute gibt es dort immer noch Probleme - aber die kann man lösen. Man muss bedenken, dass das alles bislang nur der erste Schritt ist."

Aleksandr Nikitin, der inzwischen für die norwegische Umweltorganisation Bellona arbeitet, ist einer von Russlands bekanntesten Oppositionellen. Hätte er nicht Verfolgung und Gefängnis in Kauf genommen, um die Nuklearsünden der sowjetischen Kriegsmarine publik zu machen, wäre die Abwrackung der Nordmeerflotte wohl nie zu dem geworden, was es jetzt ist. Heute blickt er selbst mit einiger Verwunderung auf seine Biografie zurück. Insgesamt zwölf Jahre hat Nikitin auf einem U-Boot der Nordmeerflotte gedient, die meiste Zeit davon als Kapitän:

"Ich war überall unterwegs: im Atlantik und im Nordmeer. Die Arbeit auf einem U-Boot hört niemals auf - sie dauert Tag und Nacht an, ohne Pause, ohne Wochenende, ohne Feiertag, und ohne die Familie. Meistens waren wir am Polarkreis unterwegs, unter der Eisdecke - denn auch die US-amerikanischen und britischen U-Boot patrouillierten unter dem Eis. Dort konnte man sich am besten vor der Luftwaffe und den Hubschraubern verbergen. Auch für die Unterwasser-Raketen der gegnerischen U-Boote war man schwer zu orten. Das alles war so eine Art Spiel - ach, und was für ein dummes Spiel! Wenn man einander jagt, sich gegenseitig rammt, nur um sich zu verletzen … Männer eben, die Krieg spielen."

Die U-Boote der Nordmeerflotte wurden angetrieben durch Kernbrennstoff aus hoch angereichertem Uran - geballte Kernkraft, die mehrmonatige Unterwasser-Missionen ohne ein einziges Auftauchen ermöglichte. Zeit zum Nachdenken gab es nicht, ein Privatleben ebenso wenig. Militärs wie Nikítin mussten auf Staatsbefehl ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren - und das, obwohl auch zu Sowjetzeiten schon bekannt war, dass radioaktive Strahlung gefährlich ist:

"Einmal gab es einen schweren Störfall in einem U-Boot-Reaktor, das war in der Andréjewa-Bucht. Einer meiner Kollegen wurde dort für die Räumung eingesetzt - gerade haben wir zusammen ein Buch darüber geschrieben. Damals war er Offizier, und seine Kompanie musste den Atommüll aus dem Wasser herausholen. Sie haben sich nicht klargemacht, wie gesundheitsgefährlich das ist. Einer musste es tun - so war zu Sowjetzeiten die Moral. Der Staat hat die Matrosen benutzt wie Material. Die wurden an den Ort des Geschehens kommandiert, haben ihre Strahlendosis abbekommen, und dann wurden die nächsten geordert."

Die Bucht Andrejewa, die nur 40 Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt liegt, hat inzwischen traurige Berühmtheit erlangt - als die größte nukleare Müllkippe weltweit und als einer der am schwersten strahlenbelasteten Orte überhaupt. Zu Sowjetzeiten hatten die Militärs hier ihre außer Betrieb gestellten Atom-U-Boote geankert und verrotten lassen - radioaktive Schiffswracks zu Dutzenden, die abgebrannten Brennelemente teilweise noch an Bord. Über 20.000 abgebrannte Brennelemente sollen hier in ständig leckenden Unterwassertanks lagern, dazu kommt flüssiger Atommüll und anderer stark strahlender Schrott, der in kaum geschützten Behältern oder sogar unter freiem Himmel herumliegt. Dennoch stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Nuklearkatastrophe mit vereinten Kräften rechtzeitig aufgehalten werden kann.

Direkt neben dem Langzeitzwischenlager steht eine Industriehalle, die groß ist wie ein Fußballfeld. Noch ist sie leer. Doch in wenigen Tagen soll hier die nächste Reaktorsektion von ihrem radioaktiven Rost befreit, und mit einer Spezialbeschichtung versehen werden. Schwerlasttransportsysteme, Transformatoren, Strahlenmessanlagen und Laboratorien - all das hat das Team der Energiewerke Nord in der Saida-Bucht zur fachgerechten Behandlung der radioaktiven Bootsrümpfe zur Verfügung gestellt. Auf russischer Seite wird das Gewerbegebiet von Vazgén Ambartzúmjan geleitet. Nachdenklich sitzt der gebürtige Armenier neben seinem Wärmestrahler in einem der provisorischen Verwaltungsgebäude in der Saida-Bucht:

"24 Jahre, 9 Monate und 11 Tage habe ich gedient. Aber Gott sei Dank haben heute ja alle verstanden, dass man die Dinge nicht ins Absurde treiben sollte. Wie viel Geld haben wir damals für Waffen ausgegeben! Und wie viel müssen wir heute zahlen, um die Ökologie wieder in Ordnung zu bringen! Irgendwie scheinen alle Militärs, sobald sie ihren Kriegsdienst beendet haben, vor allem über den Frieden nachzudenken. Wohl, weil sie auf einmal begreifen, welche Katastrophe sie mit ihren Waffen hätten auslösen können - Gott bewahre!"

Als die Supermacht Sowjetunion zerfiel, brach auch das Militärsystem mit seinen strengen Geheimhaltungsregeln zusammen. Das war die Initialzündung für die ersten internationalen Abrüstungsinitiativen: Entsetzt über die gewaltigen Mengen an Massenvernichtungsmaterial, das in vielen Regionen des Riesenreiches weitgehend ungesichert lagerte, legten die Industriestaaten spontan Hilfsprogrammen auf. Sie finanzierten Warnsysteme an Militärlagern, Vernichtungsanlagen für Giftgas, moderne Sicherheitssysteme an Atomreaktoren. Sie schufen Arbeitsplätze für Nuklearwissenschaftler, um zu verhindern, dass diese ihr Wissen an zweifelhafte Regime weiterverkauften. Anfang der 90-er Jahre sah auch Nikitin seine Stunde gekommen: Aus Militärdokumenten und Kollegengesprächen trug er Informationen über das drohende Nukleardesaster auf den Kola-Halbinsel zusammen. Mitstreiter fand er unter den Umweltschützern im benachbarten Norwegen. Doch das alte KGB-System, musste Nikitin feststellen, war noch lebendig:

"Wir haben einen detaillierten Bericht verfasst. Das war im Jahr 1994, als von internationalen Abrüstungsprogrammen auf der Kola-Halbinsel noch keine Rede war. Es hat ja niemand gewusst, was dort überhaupt los ist. Unsere Informationen gelangten über Norwegen an die Weltöffentlichkeit. Aber als ich meinen Bericht aus Norwegen nach Russland zurückbringen wollte, da haben sie mich an der Grenze verhaftet. Anklagegrund: Spionage und Landesverrat. Der Bericht enthielte Militärgeheimnisse, hieß es, die ich in Russland veröffentlichen wolle."

Der Fall Nikitin schrieb im neuen Russland Rechtsgeschichte: Als Präzedenzfall auf dem bis dato gänzlich unbekannten Fachgebiet des Umweltrechts. Während die NATO-Staaten erste Hilfsprogramme für die Kola-Halbinsel auflegten, verbrachte Alexandr Nikitin ein Jahr in Untersuchungshaft. Sein Prozess zog sich fast zehn Jahre hin. 13 Mal wurde er in dieser Zeit verhaftet. Erst 2003 wurde er endgültig freigesprochen:

"Dieser Prozess hat mich in ein anderes Leben versetzt. Heute bin ich sehr dankbar, dass alles so gekommen ist. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die ich anderenfalls nie getroffen hätte. Wissenschafter, Schriftsteller, Menschenrechtler, Ökologen, Journalisten - wunderbare Leute. Der Prozess hat mein Leben in zwei Hälften geteilt."

Das Moskauer Kurtschatov-Institut, früher führend bei der Entwicklung von Rüstungsprogrammen, koordiniert heute die einzelstaatlich organisierten Abrüstungsinitiativen auf der Kola-Halbinsel. Doch die Langzeitzwischenlagerung der U-Boot-Rümpfe kann nur der erste Schritt sein, mahnt Projektleiter Varanavin:

"Was für Fortschritte haben wir schon gemacht! Doch allein das Abwracken der Atom-U-Boote kostet gewaltige Summen. Man muss den Reaktor herausholen, den Brennstoff entfernen - und wie geht es dann weiter? Wohin mit dem Brennstoff? Vernichten, lagern, überwachen? Und wie kann man verhindern, dass er in die falschen Hände gerät? - Das ist zur Zeit unser größtes Problem. Dazu kommt das Umweltrisiko. Dieses Spaltmaterial speichert doch eine kolossale Energie! Ja, wir haben schon viel geschafft. Aber es ist noch nicht vorbei. Zwei Milliarden Euro haben wir anvisiert für die Wiederherstellung der Strahlensicherheit auf der Kola-Halbinsel. Das wird nicht ausreichen. Weitere kolossale Ausgaben werden auf uns zukommen."

Auch auf dem Grund der Barentssee liegt tonnenweise strahlender Schrott. Es ist eine Herkulesaufgabe, die der internationalen Staatengemeinschaft bevorsteht. Aber Ambardzumjan, der Leiter des Langzeitzwischenlagers, ist optimistisch. Denn mit vereinten Kräften, das ist seine Erfahrung, lässt sich jedes Problem lösen:

"Ich habe auf einem Atom-U-Boot gedient, das strategische Atombomben an Bord hatte. Heute stehen die strahlenden Teile genau dieses U-Boots in unserem Langzeitlager. Es ist meine Lieblingssektion. Und immer wenn ich dort vorüber gehe, im Sommer, dann streichle ich sie kurz."