„Der Ansatz war ursprünglich missionarisch, wir müssen Jesus dahinbringen, und haben im Lauf der Jahre gemerkt: Wenn wir mit den Menschen leben, dann werden wir dort, wo wir Christus hinbringen, feststellen, dass Christus schon da ist. Wir müssen ihn nicht hinbringen, sondern ihn nur entdecken.“
Christliches Arbeitsverständnis
Ein schottischer Arbeiterpriester 1946 im Gespräch mit einem Schweißer. Auf diese Tradition, in Betrieben vor Ort zu wirken, berufen sich noch heute manche Geistliche. © Getty Images / Picture Post
Zwischen Wirtschaftlichkeit und Solidarität
52:15 Minuten
Kirche und Arbeitswelt: ein schwieriges Verhältnis. Dem Anspruch nach stehen Kirchen an der Seite der wirtschaftlich Schwachen. Andererseits sah Luther die Arbeit als Gottesdienst – und viele kirchliche Einrichtungen müssen sich am Markt behaupten.
Der katholische Betriebsseelsorger Wolfgang Herrmann sucht auf den Raststätten im Süden der Republik den Kontakt zu LKW-Fahrern. Er klärt sie über ihre Rechte auf und fragt nach ihrem Befinden. Viele von Ihnen kommen aus Osteuropa.
Seine Arbeit fußt nicht zuletzt auf den Aussagen des katholischen Katechismus. Dort ist zu lesen: „Die Arbeit ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für die Arbeit.“ Deshalb fordert Wolfgang Herrmann für die Fahrer Würde statt Verwertung. "Da wird die Arbeitskraft ausgepresst wie eine Zitrone, und wenn man sie nicht mehr braucht, wird man ihn von heute auf morgen los", sagt er. "Das sind nicht die Arbeitsbeziehungen, die wir für Menschen brauchen, und die darf es in diesem Land nicht geben.“
Ein Pfarrer protestiert gegen Ausbeutung
Der 53-jährige Pfarrer Peter Kossen ist im niedersächsischen Vechta aufgewachsen. 2011 war er entsetzt über die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen in der dortigen Fleischindustrie. Seitdem ist er so etwas wie das Gesicht des Protestes gegen die entwürdigenden Arbeitsbedingungen.
Die osteuropäischen Arbeitsmigranten lebten in einer Parallelwelt, beklagt er. Das liege auch an der deutschen Mehrheitsgesellschaft – und damit auch an Christinnen und Christen.
Der katholische Priester nutzt immer wieder öffentliche Foren, um seine Haltung deutlich zu machen. „Die ständige Ausweitung der Werkvertrags- und Leiharbeit und ihr Missbrauch zum Lohndumping ist wie ein Krebsgeschwür, das seinen Ausgang genommen hat in der Fleischindustrie und mittlerweile in der Metallindustrie, in der Logistik und anderen Bereichen genauso verheerend unterwegs ist", sagt er.
Aus dem Orden ans Fließband
25 Jahre war Maria Jans-Wenstrup Ordensfrau und arbeitete bei den „Schwestern unserer lieben Frau“ als Lehrerin. Vor 15 Jahren trat sie aus dem Orden aus, um als einfache Arbeiterin in der Logistikbranche ihr Geld zu verdienen – in der Tradition der französischen Arbeiterpriester, die vor rund 100 Jahren auf das Elend der Arbeiterschaft reagierten und in die Fabriken gingen.
Als Ausgangpunkt für ihren Wandel nennt sie eine Begegnung mit Oscar Romero, dem Erzbischof von San Salvador, einem der prominentesten Vertreter der Befreiungstheologie: einer lateinamerikanischen Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich als Stimme der Armen verstand und diese von Ausbeutung und Unterdrückung befreien wollte.
Das Packen der Pakete ist harte Arbeit. Dennoch erlebt die 57-Jährige bei der Arbeit manchmal so etwas wie kontemplative Momente: „Für mich wäre es eher ein Widerspruch, Gott nur in der Stille der Kirche anzubeten, sondern da, wo er sich offenbart hat, mitten zwischen den Menschen und in den Menschen.“
Jesus in der Fabrik entdecken
Fritz Stahl gehört zu jenen „geistlichen Vorfahren“, auf die Maria Jans-Wenstrup sich bezieht. Statt als Gemeindepriester am Altar stand er seit 1974 im Stahlwerk bei Hoesch. Auch er wollte eine Art Scharnier sein zwischen der Kirche und der Arbeitswelt.
Auch bei den Protestanten gab es seit den 1970er-Jahren immer mehr Pfarrpersonen, die die Arbeitswelt der ‚Malocher‘ hautnah erleben wollten. Jürgen Klute war seit Ende der 1980er-Jahre 17 Jahre lang Sozialpfarrer in Herne. Zuvor hatte er ein halbes Jahr unter Tage gearbeitet.
Seit den 50er-Jahren hatte sich bei den Protestanten der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt (KDA) herausgebildet. Je nach Landeskirche mehr oder weniger deutlich stellte man sich an die Seite der Arbeiterschaft.
Weg von den Arbeitenden, hin zu Unternehmen?
In der ersten Dekade fielen dem vermeintlichen Sparzwang überproportional viele KDA-Stellen zum Opfer. Für Jürgen Klute ist aber auch ein anderer Grund denkbar: „Über 50 Prozent der Kirchensteuern werden von weniger als zehn Prozent der Kirchenmitglieder aufgebracht. Das heißt: die Kirchensteuern werden von einer kleinen und sehr wohlhabenden Gruppe zusammengetragen", sagt er. "Ich glaube, dass manche Kirchenfürsten im Hintergrund auch Angst haben, dass sie die Leute verlieren, die wirklich das Geld reinbringen.“
Heute sei die Kirche weggegangen von der Frage, wer zu den Menschen gehöre, die am stärksten eine solidarische Unterstützung brauchen. Stattdessen versuche man, eher eine Mittlerrolle zu spielen.
So zum Beispiel in der hannoverschen Landeskirche. Hier wird ein spezielles Spiritual Consulting für Führungskräfte in der Wirtschaft angeboten. Statt der früheren Parteinahme für die wirtschaftlich Schwachen hat sich der Blickwinkel verändert.
„Ich glaube, dass sich das im Laufe der letzten Jahre verändert hat", sagt Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der evangelischen Nordkirche. "Dass der Blick auf die Wirtschaft, die eben auch mit eigenem Ethos, jedenfalls viele Unternehmer, sich mit einem sozialen Ethos unbedingt befassen, dass der Blick auf diese Zielgruppe erst geschärft werden musste.“
Bürgerliche Prägung als möglicher Hemmschuh
Nach dem Versuch in den 1960er- bis 1990er-Jahren, eine Brücke in die Arbeiterschaft zu bauen, scheint sich die evangelische Kirche wieder stärker auf die eigene Klientel zu besinnen.
„Die evangelische Kirche ist natürlich von ihrer Tradition sehr stark bildungsbürgerlich geprägt", sagt Johannes Rehm. Er ist Leiter des Kirchlichen Dienstes der Arbeitswelt in der evangelischen Kirche in Bayern. "Diese Prägung ist auch seit den 50er-Jahren geblieben und es ist ein neues Bürgertum dazugekommen, junge Eliten, die supergut ausgebildet sind. Diese neuen bürgerlichen Eliten, die sind in den kirchlichen Gremien ganz stark vertreten und prägen da die Wahrnehmung. Von daher hat es eine kirchliche Industrie- und Sozialarbeit mit dem Eintreten für Menschen in einfachen Arbeitsverhältnissen innerkirchlich nicht leicht.“
In den Kirchen blickt man auch noch aus einer anderen Perspektive auf das Thema Arbeit – theologisch. Noch stärker als bei den Katholiken wird im Protestantismus die Arbeit religiös überhöht. Pfarrerin Nicole Beckmann ist in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck zuständig für den Bereich Arbeit und Wirtschaft.
„Klassisch ist das protestantische Arbeitsethos - das, was wir alle im Rückenmark über Eltern und Großeltern vermittelt bekommen haben, nämlich die Pflicht zur Arbeit, dass Arbeit im Mittelpunkt des schöpferischen Tuns steht.“
Arbeit als Gottesdienst
Bis in die frühe Neuzeit blickten Adel und Klerus mit Verachtung auf Menschen, die für ihr Überleben arbeiten mussten. Martin Luther dagegen wertete die Arbeit auf. Für ihn ist Arbeit Gottesdienst. Sie wird zum zentralen Stellenwert des evangelischen Weltverständnisses.
Traugott Jähnichen ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum:
„Wenn jemand arm ist, dann hätten katholische Christen gesagt, dann gibt man ihm aus Barmherzigkeit etwas zu essen, eine Spende. Und Calvin sagt: Dann gibt man ihm Arbeit. Dass alles sollte bei Calvin zur Ehre Gottes geschehen. Diese Grundlinie, dass man für sich selbst verantwortlich sein muss, ist gerade im Vergleich zum Katholizismus ein Unterschied, und das ist auch problematisch, weil es leicht zu einer Arbeitsverherrlichung führen kann. Die Tendenz zu einer Überhöhung der Arbeit ist in diesem protestantischen Ethos immer wieder hervorgetreten.“
Leiden an erfüllender Arbeit?
Diese Mischung aus Pflichterfüllung und Überhöhung der Arbeit ist unlängst in die Kritik geraten. Die Psychologin Tatjana Schnell ist Professorin an der Universität Innsbruck und an der School of Theology, Religion and Society in Oslo: Rund 70 Prozent der Generation Y, also jener Menschen, die heute etwa zwischen 25 und 40 Jahre alt sind, würden Abstriche beim Gehalt machen, wenn sie dafür eine sinnvolle Tätigkeit ausüben könnten.
„Wann immer gefragt wird, was junge Menschen wichtig finden an ihrer Arbeit und sie das ranken müssen, dann taucht das Geld immer deutlich unter Aspekten wie ‚Es muss interessant sein, gute Kolleginnen und es muss sinnvoll sein‘. Es hat definitiv seine Wertigkeit verändert.“
Wenn die Arbeit als sinnstiftend und wichtig empfunden wird, sind Menschen bereit, in ihrer Arbeitsbelastung über ein gesundes Maß hinaus zu gehen. Die Kasseler Pfarrerin Nicole Beckmann merkt dazu an:
„Leidenschaft kann etwas sein, dass Leiden schafft – wenn die Identifikation und Sinnstiftung ins Extreme neigt. Deshalb ist für uns als Kirchen auch wichtig, zu fragen: Was ist gute Arbeit? Und gute Arbeit ereignet sich dann, wenn die Beziehung eines Menschen in seine Umwelt hinein genauso dauerhaft gesund erhalten bleibt wie die Beziehung zu sich selbst.“
Kranke und alte Menschen zu pflegen, ist offensichtlich eine sinnvolle und wichtige Arbeit. Gerade bei Pflegekräften trifft man in der Regel auf ein hohes und manchmal auch problematisches Arbeitsethos.
Das Dilemma des „Dritten Wegs“
Nach dem Staat sind die Kirchen der größte Arbeitgeber in Deutschland. Rund 1,8 Millionen Menschen sind vor allem bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas beschäftigt – und damit in einem Bereich, der arbeitsrechtlich einen Sonderweg darstellt. Denn das Betriebsverfassungsgesetz, in dem es um die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geht, gilt nicht für die Kirchen.
Sie beschreiten den sogenannten „Dritten Weg“. Die Kirchen dürfen als Arbeitgeber den Beschäftigten in ethischen Dingen Vorgaben machen; und sie schließen in ihren Unternehmen die Gewerkschaften weitgehend aus. Arbeitskämpfe und Streiks sind untersagt. Ein Konzept, dass die Betriebsseelsorge ablehnt, betont Ingrid Reidt, katholische Betriebsseelsorgerin in Rüsselsheim und zuständig für Südhessen.
„Ich höre nicht auf, zu sagen: Wenn die Kolleginnen vom öffentlichen Dienst auf die Straße gehen und aushandeln und wir uns anlehnen, profitieren wir von denen, die auf die Straße gehen.“
Konflikte nicht wegspiritualisieren
Die christlichen Wohlfahrtsverbände stecken oft in einem Dilemma: Als kirchlicher Verband fordern sie sozialpolitische Verbesserungen gerade für diejenigen, die über wenig Einkommen verfügen. Aber das einzelne Unternehmen der Caritas und Diakonie hat wirtschaftliche Interessen, schwarze Zahlen zu schreiben.
Bruno Schrage ist zuständig für Grundsatzfragen des Diözesancaritasverbandes Köln:
„Gewerkschaften machen Machtstrukturen transparent. Es gibt aus der christlichen Gesellschaftslehre keinen Grund, die Gewerkschaften auszugrenzen, der Streik ist legitimiert. Es ist nichts Verwerfliches. Es ist ein ganz legitimes Mittel der Konfliktbearbeitung. Es gibt Konflikte zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, die sollten wir nicht wegspiritualisieren.“
Zur Insolvenz die Letzte Ölung?
Die alte protestantische Arbeitsethik mit Idealen wie Pflichterfüllung und Disziplin verblasst immer mehr. Stattdessen herrscht der „Imperativ der Häresie“: die jüngere Generation setzt auf Individualität, Kreativität und eine work-life-Balance.
Und ähnlich wie das christliche Arbeitsideal geraten auch die kirchlichen Privilegien immer stärker unter Druck. Mittlerweile haben die Kirchen durch ihr eigenes Arbeitsrecht ein Glaubwürdigkeitsproblem: Missstände anprangern, wenn im eigenen Unternehmen vieles schief läuft, kommt nicht gut an.
Und auch der institutionelle Rückzug aus jenen Bereichen, in denen man sich lange konkret um die Belange der abhängig Beschäftigten, der Arbeiterschaft kümmerte, wirft die Kirchen auf ihren bürgerlichen Kern zurück. Die Brücke in die Arbeitswelt wird immer brüchiger. Deshalb befürchten Betriebsseelsorgerinnen wie Ingrid Reidt, dass ihre präventive politische Solidaritätsarbeit immer schwieriger wird:
„Da hatte ich bei einem Betrieb angerufen kurz vor der Insolvenz, und die arme Frau an der Pforte war so entsetzt, dass sie sagte: Oh, geht es uns so schlecht, dass die Kirche kommt. Also ich kam quasi zur letzten Ölung. Das möchte ich natürlich nicht.“