Vom Erinnern und Vergessen

In ihrer "Legende vom Glücklichsein des Menschen" geht Peggy Mädler den Lebensschicksalen von drei Generationen nach. Ihr Roman lebt von der Diskrepanz zwischen privatem Erinnern und kollektivem Gedächtnis – und wird so schnell nicht in Vergessenheit geraten!
Im Februar 1968 erhält der Großvater der Icherzählerin in Peggy Mädlers Roman "Legende vom Glück des Menschen" als Auszeichnung ein Buch mit dem Titel "Vom Glück des Menschen". Es fällt seiner Enkelin, der Icherzählerin Ina Endes, nach dem Tod der Großmutter zufällig in die Hände. Ina vermutet, dass er das Buch ins Regal gestellt hat, ohne es zu lesen.

Es bleibt nicht die einzige Vermutung, die in diesem Roman angestellt wird. Bereits auf der ersten Seite gesteht sich die Erzählerin ein, dass sie wenig weiß: Fast nichts über das Leben ihres Großvaters, wenig von ihrer Großmutter. Wenn sie sich Gedanken über das Leben ihrer Eltern macht, hat sie den Eindruck, eigentlich nichts zu wissen. Dagegen scheinen die historischen Kenntnisse über die Zeitabschnitte, in denen ihre Großeltern und ihre Eltern jung waren, sich kennenlernten und heirateten, viel umfassender zu sein.

Doch wie soll ein Roman funktionieren, der als Kronzeugin eine Erzählerin aufruft, die eingesteht, nichts zu wissen? Das Wort "vielleicht", erweist sich in Peggy Mädlers Roman als Schlüsselwort: Vielleicht war es so, wie man es sich erzählt. Zweifel allerdings sind erlaubt. Denn wenn Ina und ihr Bruder Thomas versuchen, Ereignisse zu rekonstruieren, die beide erlebt haben, stellen sie fest, dass sie sich an Unterschiedliches erinnern und der jeweils andere Entscheidendes vergessen hat.

In der Vorstellung von Ina sitzen sich das Vergessen und das Erinnern als zwei Schachspieler gegenüber. "Der eine redet ununterbrochen, der andere schweigt und beides ist eine mögliche Strategie, um das Spiel für sich zu entscheiden."

Die 1976 in Dresden geborene Autorin entscheidet sich in ihrem Roman allerdings für eine andere Spielstrategie, wenn sie auf die Diskrepanz zwischen privatem Erinnern und kollektivem Gedächtnis aufmerksam macht: Sie verleiht denen, die geschwiegen haben, eine Stimme, wobei sie ihnen nicht die Worte derer in den Mund legt, die in der Geschichte immer das Sagen hatten. Sie will vor allem daran erinnern, was vergessen wird, wenn man sich erinnert. Eben darin besteht die außerordentliche Leistung des Buches, dass einen singulären Platz in der an Erinnerungsbüchern so reichen Gegenwartsliteratur einnimmt: Es nähert sich dem Erinnern über das Vergessen.

Mädler geht den Lebensschicksalen von drei Generationen nach. Dabei wird die vermeintlich schuldlose Verstrickung derer, die die Geschichte erlebt haben, mit dem Wissen der nachgeborenen Erzählerin konfrontiert, die weiß, was als Schuld bezeichnet wird. Doch an keiner Stelle spielt sich die Erzählerin als moralische Instanz auf, die ihre Figuren richtet. Vielmehr gesteht sie ihnen ihr Schweigen zu. Sie nimmt sie aber zugleich auch in die Pflicht, wenn sie sie mit der Frage konfrontiert: "Wo habt ihr eigentlich gelebt?".

Der Großvater war gut beraten gewesen, als er das Buch "Vom Glück des Menschen" ungelesen in den Bücherschrank stellte, denn versprochenes Glück taugt nur für Legenden. Dass die aber nicht gemeint sein können, wenn es um das Lebensglück geht, davon weiß dieser Roman so überzeugend zu erzählen, dass man nur hoffen kann, dass er lange in Erinnerung bleibt.

Besprochen von Michael Opitz

Peggy Mädler: Legende vom Glück des Menschen
Roman
Galiani Verlag, Berlin 2011
210 Seiten, 16,95 Euro