Vom "Gefühl der Sinnlosigkeit" überrannt

Von Ulrich Rüdenauer |
Der in Berlin lebende Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist gestorben - mit nur 48 Jahren. Sein größter Erfolg war "Tschick", ein Roadmovie über zwei junge Ausreißer. Ein Leben ohne Hoffnung geht nicht, schrieb Herrndorf in seinem Blog. Diese lebt nun zumindest in seinen Texten weiter.
Anfang 2010 erfuhr Wolfgang Herrndorf, dass sich in seinem Kopf ein unheilbarer Tumor festgesetzt hat. "Raumforderung" nennen das die Ärzte, es hört sich sachlicher an. Kurz darauf begann er mit dem Schreiben eines Tagebuchs, das er nach und nach im Internet veröffentlichte: Von Arztbesuchen handelt dieser Blog, vom Aufenthalt in der Psychiatrie, von Ängsten und Alltagsepiphanien oder von der Google-Suche nach Überlebensstatistiken.

"Warum ich? Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie."

So lautete ein Eintrag am 11. Januar 2011.

Man fragte sich manchmal, wie man es aushielt, diesen Blog zu lesen, sich so einzulassen auf diesen Menschen, den man persönlich ja gar nicht kannte. Vielleicht lag es an Herrndorfs Humor, seiner Ehrlichkeit, die nie larmoyant war. An seiner Haltung, die immer ein bisschen selbstironisch schimmerte, etwas so Altmodisches wie Würde ausstrahlte und gleichwohl alle Verzweiflung in sich trug.

In einer Lesung aus dem Jahr 2010 kann man diesen eigenen Ton hören:

"Reizwortgeschichte geht so: Man bekommt vier Wörter, zum Beispiel 'Zoo', 'Affe', 'Wärter' und 'Mütze', und dann muss man eine Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig originell. Der reine Schwachsinn. Die Wörter, de Schürmann sich ausgedacht hatte, waren 'Urlaub', 'Wasser', Rettung' und 'Gott'. Was schon mal deutlich schwieriger war als mit dem Zoo und dem Affen, und die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott.

Bei uns gab es nur Ethik, und in der Klasse waren 16 Atheisten inklusive mir, und auch die, die Protestanten waren, die haben nicht wirklich an Gott geglaubt. Glaube ich. Jedenfalls nicht so, wie Leute daran glauben, die wirklich an Gott glauben, die keiner Ameise was zuleide tun können oder sich riesig freuen, wenn einer stirbt, weil der dann in den Himmel kommt. Oder die mit einem Flugzeug ins World Trade Center krachen. Die glauben wirklich an Gott."

Kunststudent, Comiczeichner, Schriftsteller
Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren, er hat Malerei in Nürnberg studiert und als Comiczeichner begonnen und lebte zuletzt in Berlin. Sein erstes Buch "In Plüschgewittern" erschien 2002, ein außergewöhnlicher Berlinroman. 2004 gewann er beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den Publikumspreis für die Geschichte "Diesseits des Van-Allen-Gürtels", die drei Jahre später in dem gleichnamigen Erzählungsband erscheinen sollte.

Dann kam im Herbst 2010 "Tschick", ein Erfolg bei der Kritik und bei den Lesern:

"Es geht um zwei 14-jährige Jungs. Und auf die Idee zu dem Buch bin ich gekommen, weil ich die letzten Jahre Bücher meiner Jugend wiedergelesen habe, Sachen, die mir gefallen hatten. Und da ist mir aufgefallen, dass diese Bücher alle drei Gemeinsamkeiten hatten. Nämlich erstens: Die Erwachsenen werden sofort eliminiert. Zweitens: Es geht auf eine große Reise. Und drittens: aufs Wasser. Das schien ein gutes Rezept für ein Jugendbuch zu sein. Ich fragte mich dann, wie ich das heute in der Bundesrepublik des Jahres Zweitausendirgendwas machen könnte, wenn ich wollte. Und da ist mir nichts eingefallen, außer zwei Jungs klauen ein Auto und fahren herum."

"Tschick" ist ein Jugendroman auch für Erwachsene. Zwei Jungs fahren in einem Lada von Berlin aus durch den Osten Deutschlands wie einst Huckleberry Finn mit dem Floß durch den Süden der USA. Herrndorf erzählt das in einer schnodderigen Kunstsprache, die sich keinem Jugendslang anbiedert und doch ganz nah dran zu sein scheint am Denken und Fühlen seiner Helden.

Schreiben im Schatten der Krebs-Diagnose
Die Arbeit an dem Buch und die Veröffentlichung war schon überschattet von der Krebs-Diagnose. Herrndorf gab keine Interviews mehr, sprach öffentlich nicht über die Krankheit. In kürzester Zeit und mithilfe einiger enger Freunde hat er trotzdem einen weiteren Roman fertigstellen können. Im Herbst 2011 erschien "Sand":

"Das ist ein dem Genre des Trottelromans entnommener Roman, also eigentlich ein Thriller, der im Jahr 1972 in der Wüste spielt. Trottelroman insofern: die Araber sind alle dumm, faul und stinken; die Europäer sind arrogante Rassisten und Päderasten; die Amerikaner foltern alles, was ihnen in den Weg kommt. Und hinter allem stecken selbstverständlich die Juden. Das ist das handelnde Personal dieses Buches, und dementsprechend ist auch die Handlung ein bisschen. Es geht um die ganz großen Dinge, es geht um Geheimdienste, es geht um die Atombombe."

Um die ganz großen Dinge ging es bei Herrndorf tatsächlich. Und es ging darum auch in seinem Blog. Am 23. August 2011 konnte man dort lesen:

"Bücher, in die ich mir Notizen gemacht hab, in der Badewanne eingeweicht und zerrissen. Nietzsche, Schopenhauer, Adorno. 31 Jahre Briefe, 28 Jahre Tagebücher. An zwei Stellen reingeguckt: ein Unbekannter.
Erster Eintrag: '20. Mai 1983, Freitag. Letzter Schultag vor Pfingsten. Wunderschönes Wetter. Meine einzige Produktivität in der Schule war in Englisch.' Dann Verweis auf Landschaftsgekritzel.
Testament gemacht."


Viele der Einträge in den letzten Monaten sprachen von "Kopfschmerzen" und "Schwummrigkeit", vom "Gefühl der Sinnlosigkeit", das ihn überrenne. "Mit der Diagnose leben geht, Leben ohne Hoffnung nicht", schrieb er. Zumindest in seinen Texten lebt sie weiter, diese Hoffnung.

Der Sprecher der Zitate ist Rainer Appel

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