Schriftsteller Navid Kermani
Navid Kermani, Schriftsteller, sitzt in seinem Arbeitszimmer. Kermani betrachtet den derzeitigen Erfolg der AfD als eine Gegenreaktion auf die Ãffnung Deutschlands in den vorhergehenden Jahrzehnten. (Zu dpa: "Kermani: AfD-Erfolg ist Gegenreaktion auf Ãffnung Deutschlands") © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Vom Glauben in einer ungerechten Welt
78:03 Minuten
„Ich bin am Ende nicht klüger, aber vielleicht hie und dort ein bisschen weiser“, sagt Navid Kermani über seinen Schreibprozess. Ohnehin interessieren den Schriftsteller Fragen mehr als Antworten. Das gilt auch für sein neuestes Buch über den Glauben.
Navid Kermanis Erfolgsrezept klingt bestechend einfach: „Ich lasse die Leser an meiner eigenen Neugier teilhaben.“ Ob in seinen Reportagen, Romanen oder als Redner – der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller will seinem Publikum einen Einblick in das geben, „was mich selbst in dem Augenblick interessiert“.
Nun hat er mit „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ ein Jugendbuch geschrieben, in dem es einmal mehr um Kermanis große Themen Glauben und Religiosität geht. Obwohl ein Jugendbuch sei es „nicht einfacher gestrickt“. Im Gegenteil: „Es ist genau so kompliziert und auch dunkel. Ich spare die dunklen Aspekte nicht aus.“
Der Autor als zweifelndes Kind
Wie alle seine Bücher habe auch das jüngste, in dem ein Vater mit seiner Tochter über Islam und Glauben spricht, autobiografische Züge. In dem Fall sei er aber „nicht nur der Vater, sondern auch die bis zum Ende skeptische Tochter“, mit deren Zweifeln sich der Icherzähler auseinandersetzt: „In mir ist beides.“
Für ihn sei das Buch beispielhaft dafür, „wie wir heute mit Religion umgehen“. Das Buch versuche, die Situation einzufangen, in einer Welt zu leben, „wo man nicht mehr intuitiv weiß, was richtig oder falsch ist".
„Eine milde, warme, weiche Welt“
Das Bedauern darüber, wie sich der Islam und die Sicht auf ihn verändert hat, wurde schon in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels deutlich, den er 2015 zugesprochen bekam. Die Trauer, die dort anklang, ist für Kermani „auch eine biografische Erfahrung“. Denn er selbst sei mit einem Islam der Güte aufgewachsen.
1967 als Kind iranischer Auswanderer in Siegen geboren, sei ihm von seiner muslimischen Familie vermittelt worden, „der Islam ist Hoffnung“. Die „milde, warme, weiche Welt“, die ihm seine Eltern, die Tante und die Großeltern vorlebten, habe „nicht schroff geschieden zwischen Glauben und Unglauben“.
Doch wenn er heute die islamische Welt betrachte, die er seit den 1990er-Jahren immer wieder als Reporter bereist, seien „überall nur Katastrophen passiert“. Die Schönheit von Städten wie Sanaa, Damaskus, Aleppo oder Bagdad habe er „nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen gesehen“. Doch die Welt, die er geliebt habe, gebe es nicht mehr.
Eine Currywurst als unorthodoxe Zuneigung
Navid Kermanis Eltern kamen in den 1950er-Jahren „in der ersten großen Auswandererwelle“ aus Isfahan nach Deutschland. Sie seien "damals mit offenen Armen begrüßt“ worden.
Der jüngste von vier Brüdern erinnert sich mit viel Wärme an seine Kindheit. Er sei ein selbstbewusstes, etwas vorlautes Kind gewesen, das dazu gehörte. „Bei uns zu Hause herrschten andere Sitten, es herrschten andere Gerüche, bei uns war es irgendwie anders, aber die Kinder kamen immer gern zu uns.“
Die Eltern waren gläubig, ohne es von ihren Söhnen zu erwarten. Einmal, so erinnert sich Kermani, habe der Vater nur seinetwegen an einer Autobahnraststätte gehalten und ihm eine Currywurst bestellt – schlicht, um dem kleinen Sohn eine Freude zu machen. Er selbst habe „als frommer muslimischer Vater“ nicht mitgegessen, aber dem Kind den Genuss gegönnt. „Mit so einer Religiosität bin ich aufgewachsen.“
„In welcher Welt haben die vorher gelebt?“
Schon als Jugendlicher arbeitete Kermani für den Siegener Lokalteil der Westfälischen Rundschau. Später hat der Wahlkölner nicht nur Romane, Essays und ein Kinderbuch verfasst, sondern auch Artikel für die FAZ und lange Reportagen für den Spiegel. Dabei verschlägt es ihn immer wieder in die Krisen- und Kriegsgebiete dieser Welt. 2016 hat er als Reporter aus der Ukraine berichtet.
Wenn er heute, angesichts des russischen Angriffskriegs, das politische Entsetzen in Deutschland höre, frage er sich: „In welcher Welt haben die vorher gelebt?“
Schließlich seien in den vergangenen Jahren Städte wie Aleppo oder Damaskus dem Erdboden gleichgemacht worden, der IS habe Gräueltaten verübt, der Jemenkrieg sei in dieser Form nur durch die Unterstützung des Westens möglich gewesen: „Wo war da die Empathie? Wo war die Solidarität? Wo war der Ausdruck ‚Zeitenwende‘?“ Sein Fazit: „Wir haben einfach nicht hingeschaut.“
Glauben, weil die Welt ist, wie sie ist
Navid Kermani will hinschauen. Nach Ostern wird er wieder in die Ukraine reisen, um über die Geschehnisse dort zu berichten.
In seinem Nachdenken über die Welt greift der habilitierte Orientalist und gläubige Muslim immer wieder auf die heiligen Bücher der Weltreligionen zurück. Die Zweifel und die Ratlosigkeit, die er auch in seinem jüngsten Buch thematisiert, stecken für ihn in den Büchern selbst. „Diese Welt ist ungerecht und dafür gibt es auch keine Erklärung.“
Für seine persönliche Beschäftigung mit Glauben und Religion sei das kein Widerspruch. „Gerade, weil die Welt ist, wie sie ist“, müsse er glauben.
(era)