Vom Glück im Unglück
Der Zusammenstoß auf der Versuchsstrecke des Transrapid war ein schreckliches Unglück. Aber was genau ist ein Unglück? Das Wort, man nehme es nur wörtlich, verrät es: Etwas ist vom Glück verlassen worden, was aber nichts anderes bedeutet, als dass Glück dazugehört, wenn Unglück vermieden werden soll. Ganz ohne Glück geht alles irgendwann einmal schief. Und irgendwann hat jedes Glück ein Ende. Anders gesagt: Es gibt keine absolute Sicherheit.
Doch wo und wann auch immer ein Unglück geschieht, reagieren wir darauf so, als sei es mit absoluter Sicherheit vermeidbar gewesen. Wir machen uns auf die Suche nach der Ursache und den oder die Verursacher. Sofort wird die Schuldfrage gestellt. Unsere Vorstellung von Sicherheit ist so total, dass wir nicht akzeptieren können, dass jedes Sicherheitssystem und jede Sicherheitsphilosophie irgendwann einmal, und sei es auch im unvorstellbarsten Fall, versagen wird. Versagt es nicht, ist das nichts als Glück.
Natürlich wäre jedes einzelne Unglück vermeidbar gewesen; es geht ja auf einen konkreten Fehler zurück. Aber insgesamt sind Fehler unvermeidbar, weil menschlich. Die meisten Fehler führen nur nicht zu einem Unglück. Wer einen Fehler macht, hat meistens Glück. Bleibt das Glück aus, ist das Unglück da.
Unglücke achselzuckend in Kauf zu nehmen, wäre freilich falsch. Wir müssen aus ihnen lernen. Verbesserte Sicherheit ist fast immer ein Lerneffekt, immer eine Folge von Unglück. Weder Airbags noch ABS wären entwickelt worden ohne ein Heer von Verunglückten. Jeder Flugzeugabsturz wird genauestens analysiert und jede Lücke im mehrfach ausgelegten Sicherheitssystem sofort geschlossen. Es tun sich nur immer wieder neue Lücken auf. Man spricht dann gern von einer tragischen Verkettung der Umstände.
Die Menschen wollen nichts riskieren. Aber meistens riskieren sie doch, und zwar immer dann, wenn ihnen der Nutzen einer Technik deutlich höher erscheint als ihr Risiko. Bis ein Unglück geschieht, wird das Risiko verdrängt und vergessen. Umso größer ist die Erregung danach.
Dann wird das Verhältnis von Nutzen und Risiken diskutiert. Dabei scheiden sich die Geister. Das Auto zum Beispiel ist bei weitem gefährlicher als die Magnetschwebebahn. Ginge es allein um den Aspekte der Sicherheit, müsste das Autofahren verboten werden - und zwar sofort. Menschliches Versagen am Steuer ist nämlich keine Ausnahme, sondern etwas, womit jeder Verkehrsteilnehmer in jeder Sekunde rechnen muss. Tausende sterben auf den Straßen. Kaum jemand aber will deshalb auf das Auto verzichten. Es ist, aus vielen Gründen, rationalen wie emotionalen, nicht zu ersetzen.
Anders beim Transrapid. Jetzt wird seine Technologie in Frage gestellt, obwohl doch eindeutig menschliches Versagen, sei es des gerade diensttuenden Personals, sei es der Verantwortlichen für das Sicherheitskonzept, die Ursache des Unglücks war und nicht fehlerhafte Technik. In Wahrheit wird am Nutzen des Transrapid gezweifelt - und wer diese Ansicht teilt, dem kommt das Unglück gerade recht.
Wie groß darf das Restrisiko sein? Es kommt ganz darauf an. Ein Beispiel: Je wirksamer Medikamente sind, desto größer ist das Risiko schwerer Nebenwirkungen. Je schwerer und je schwerer heilbar eine Krankheit ist, desto größer sind die Risiken, die zu akzeptieren sind. Immer wieder, wenn auch selten, kommt es beim Test neuer Medikamente zu höchst bedauerlichen Folgen für im übrigen freiwillige Probanden. Vor einiger Zeit geschah dies zum Beispiel in England beim Test eines Leukämiemittels einer deutschen Firma an gesunden Personen. Daran ist diese Firma zerbrochen. Es war ein tragisches Unglück für Mensch und Medizin. Denn das Medikament wurde nicht weiter entwickelt, obwohl es das Leben zahlreicher an Blutkrebs leidender Menschen hätte verlängern können. In diesem Fall war peinlichst genau nach den Regeln für Medikamententest verfahren worden. Dennoch war das Restrisiko nicht erkannt worden und deshalb unvermeidbar gewesen.
Die schwierige Abwägung zwischen Risiko und Nutzen muss immer wieder neu vorgenommen werden. Das Risiko eines "größten anzunehmenden Unfalls" bei einem Kernkraftwerk ist zwar verschwindend gering; die Folgen eines GAU jedoch unverhältnismäßig weitreichend und lange nachwirkend. Trotzdem könnte das Restrisiko unter veränderten Bedingungen als akzeptabel erscheinen: wenn Öl knapp, alternative Energiequellen aber nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen würden. Niemand kann heute voraussagen, ob Deutschland den Ausstiegsbeschluss nicht doch noch einmal zu revidieren gezwungen sein wird. Auch die Sicherheit von Kernkraftwerken wird übrigens nicht durch den Ausstieg verbessert, sondern nur durch die wachsende Erfahrung mit dieser Technologie.
Die Dialektik von Sicherheit und Risiko ist jedenfalls nicht so schlicht wie jetzt wieder mancher Kommentar nach dem schweren Unglück in Lathen.
Wolfgang Herles studierte Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Psychologie in München. Nach seiner Promotion 1980 und dem Besuch der Deutschen Journalistenschule war er zunächst Korrespondent für den Bayerischen Rundfunk in Bonn und Redakteur des TV-Magazins ‘Report’. Von 1987 an leitete er das ZDF-Studio Bonn und moderierte später auch die ZDF-Talkshow ‘Live’. Er ist jetzt Leiter des ZDF-Kulturmagazins ‚aspekte’.
Natürlich wäre jedes einzelne Unglück vermeidbar gewesen; es geht ja auf einen konkreten Fehler zurück. Aber insgesamt sind Fehler unvermeidbar, weil menschlich. Die meisten Fehler führen nur nicht zu einem Unglück. Wer einen Fehler macht, hat meistens Glück. Bleibt das Glück aus, ist das Unglück da.
Unglücke achselzuckend in Kauf zu nehmen, wäre freilich falsch. Wir müssen aus ihnen lernen. Verbesserte Sicherheit ist fast immer ein Lerneffekt, immer eine Folge von Unglück. Weder Airbags noch ABS wären entwickelt worden ohne ein Heer von Verunglückten. Jeder Flugzeugabsturz wird genauestens analysiert und jede Lücke im mehrfach ausgelegten Sicherheitssystem sofort geschlossen. Es tun sich nur immer wieder neue Lücken auf. Man spricht dann gern von einer tragischen Verkettung der Umstände.
Die Menschen wollen nichts riskieren. Aber meistens riskieren sie doch, und zwar immer dann, wenn ihnen der Nutzen einer Technik deutlich höher erscheint als ihr Risiko. Bis ein Unglück geschieht, wird das Risiko verdrängt und vergessen. Umso größer ist die Erregung danach.
Dann wird das Verhältnis von Nutzen und Risiken diskutiert. Dabei scheiden sich die Geister. Das Auto zum Beispiel ist bei weitem gefährlicher als die Magnetschwebebahn. Ginge es allein um den Aspekte der Sicherheit, müsste das Autofahren verboten werden - und zwar sofort. Menschliches Versagen am Steuer ist nämlich keine Ausnahme, sondern etwas, womit jeder Verkehrsteilnehmer in jeder Sekunde rechnen muss. Tausende sterben auf den Straßen. Kaum jemand aber will deshalb auf das Auto verzichten. Es ist, aus vielen Gründen, rationalen wie emotionalen, nicht zu ersetzen.
Anders beim Transrapid. Jetzt wird seine Technologie in Frage gestellt, obwohl doch eindeutig menschliches Versagen, sei es des gerade diensttuenden Personals, sei es der Verantwortlichen für das Sicherheitskonzept, die Ursache des Unglücks war und nicht fehlerhafte Technik. In Wahrheit wird am Nutzen des Transrapid gezweifelt - und wer diese Ansicht teilt, dem kommt das Unglück gerade recht.
Wie groß darf das Restrisiko sein? Es kommt ganz darauf an. Ein Beispiel: Je wirksamer Medikamente sind, desto größer ist das Risiko schwerer Nebenwirkungen. Je schwerer und je schwerer heilbar eine Krankheit ist, desto größer sind die Risiken, die zu akzeptieren sind. Immer wieder, wenn auch selten, kommt es beim Test neuer Medikamente zu höchst bedauerlichen Folgen für im übrigen freiwillige Probanden. Vor einiger Zeit geschah dies zum Beispiel in England beim Test eines Leukämiemittels einer deutschen Firma an gesunden Personen. Daran ist diese Firma zerbrochen. Es war ein tragisches Unglück für Mensch und Medizin. Denn das Medikament wurde nicht weiter entwickelt, obwohl es das Leben zahlreicher an Blutkrebs leidender Menschen hätte verlängern können. In diesem Fall war peinlichst genau nach den Regeln für Medikamententest verfahren worden. Dennoch war das Restrisiko nicht erkannt worden und deshalb unvermeidbar gewesen.
Die schwierige Abwägung zwischen Risiko und Nutzen muss immer wieder neu vorgenommen werden. Das Risiko eines "größten anzunehmenden Unfalls" bei einem Kernkraftwerk ist zwar verschwindend gering; die Folgen eines GAU jedoch unverhältnismäßig weitreichend und lange nachwirkend. Trotzdem könnte das Restrisiko unter veränderten Bedingungen als akzeptabel erscheinen: wenn Öl knapp, alternative Energiequellen aber nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen würden. Niemand kann heute voraussagen, ob Deutschland den Ausstiegsbeschluss nicht doch noch einmal zu revidieren gezwungen sein wird. Auch die Sicherheit von Kernkraftwerken wird übrigens nicht durch den Ausstieg verbessert, sondern nur durch die wachsende Erfahrung mit dieser Technologie.
Die Dialektik von Sicherheit und Risiko ist jedenfalls nicht so schlicht wie jetzt wieder mancher Kommentar nach dem schweren Unglück in Lathen.
Wolfgang Herles studierte Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Psychologie in München. Nach seiner Promotion 1980 und dem Besuch der Deutschen Journalistenschule war er zunächst Korrespondent für den Bayerischen Rundfunk in Bonn und Redakteur des TV-Magazins ‘Report’. Von 1987 an leitete er das ZDF-Studio Bonn und moderierte später auch die ZDF-Talkshow ‘Live’. Er ist jetzt Leiter des ZDF-Kulturmagazins ‚aspekte’.