Vom Inzest gequält
Mit seinem Buch hat der Franzose Michel Onfray in Frankreich und den USA einen Skandal ausgelöst. Disqualifiziert das enfant terrible der zeitgenössischen französischen Philosophen doch einen ganzen Berufsstand.
Für ihn ist die Psychoanalyse das autobiographische Abenteuer eines einzelnen Mannes und dessen eigene Obsessionen:
"Freud ist kein Wissenschaftler, er hat nichts Allgemeingültiges hervorgebracht, und seine Lehre ist ein auf Hirngespinste, seine Obsessionen und sein vom Inzest gequältes und zerfressenes Innenleben zugeschnittenes Produkt" – so fasst der Autor seine These zusammen. Der Rest des Buchs ist der Versuch, diese Generalanklage weitläufig zu belegen.
Tatsächlich ist der Status der Psychoanalyse als Wissenschaft noch heute umstritten. Allerdings ignoriert Onfray die Weiterentwicklungen eines Dreivierteljahrhunderts – ihm geht es um die Entzauberung eines Idols, des offiziellen Gründervaters. Freud habe praktisch keine einzige originelle Idee gehabt, jede seiner Thesen lasse sich bei Vorläufern wie Nietzsche ausformuliert nachweisen; nicht umsonst habe Freud sich geweigert, den Modephilosophen zu lesen, zu nahe seien dessen Ideen an seinen eigenen, habe er geahnt – z.B. von den körperlichen Wurzeln psychischen Geschehens bzw. der Entstehung der Kultur aus der Unterdrückung der Triebe (wer dächte da nicht an Nietzsches Genealogie der Moral?), vom Unbewussten als heimlichem Steuermann (Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung lässt grüßen), von der Verdrängung bzw. Sublimation? Warum habe er sich nie selber nach den Wurzeln seiner Vorstellungen und Weltdeutungen gefragt? Freud habe sich jenseits der Belange derer gewähnt, die er analysierte, er sah sich selber nicht als Produkt seiner Zeit und Kultur, sondern als Entdecker zeitloser Wahrheiten, ja anthropologischer Konstanten.
Im Grunde seien alle seine Schlüsselbegriffe Plagiate, und Freuds Diagnosen – so er die Fälle nicht gleich erfand – seien weithin Projektionen seiner eigenen Probleme auf die Patienten gewesen, die er weniger analysiert, geschweige therapiert bzw. geheilt habe als dass er in ihnen wahlverwandte Obsessionen suchte: Seine eigenen Inzestphantasien zum Beispiel (Onfray widmet viele Seiten dem vorgeblichen Nachweis einer langjährigen Beziehung Freuds mit seiner Schwägerin – bestenfalls eine gewichtete Indizienlage) und überhaupt die Familienbande als Hauptursache der Neurosen – während er die gesellschaftlichen Bedingungen fast vollständig ausgeblendet habe, wie sie Erich Fromm, Marcuse, Reich u.a. thematisierten. Kein Wort auch über Nazis und Faschismus, und Rügen für Kollegen, die psycho-politische Szenarien entwarfen: Wilhelm Reichs Rauswurf ist nur der bekannteste Fall.
Dem Buch fehlen sowohl Index wie Bibliographie, Quellenangaben sind mitunter reichlich vage, und andere als französische Sekundärliteratur scheint dem Autor kaum erwähnenswert. Gleichwohl finden sich in der oft willkürlichen und mitunter fast hasserfüllten Polemik immer wieder bedenkenswerte Fragestellungen, die in der fachinternen Debatte nur selten Aufmerksamkeit erhalten. Zum Beispiel habe Freud die Religion als Ursache von Neurosen gesehen – und brachte doch den Niedergang der Religionen und die Zunahme der Neurosen in einen Zusammenhang. Ein psychohistorischer Diskussionsvorschlag für heute?
Michel Onfray, geboren 1959, ist das enfant terrible unter den zeitgenössischen französischen Philosophen. Bekannt geworden auch hierzulande durch Titel wie "Der Philosoph als Hund" oder "Wir brauchen keinen Gott", ist Onfray zugleich einer der populärsten intellektuellen Autoren – eben weil er hochbrisante akademische Kontroversen in die Alltagsbelange normaler Bildungsbürger übersetzt. Zu diesem Zweck gründete er auch vor einem Jahrzehnt eine Art Volksuniversität, zu der jeder Bürger Zugang hat. Sein jüngstes Buch – der Versuch, Sigmund Freud und die Psychoanalyse zu entzaubern, ja als eine Art Magie vorzustellen, löste einen Skandal in Frankreich und den USA aus.
Besprochen von Eike Gebhardt
Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert
Knaus Verlag, München 2011
640 Seiten, 24,99 Euro
"Freud ist kein Wissenschaftler, er hat nichts Allgemeingültiges hervorgebracht, und seine Lehre ist ein auf Hirngespinste, seine Obsessionen und sein vom Inzest gequältes und zerfressenes Innenleben zugeschnittenes Produkt" – so fasst der Autor seine These zusammen. Der Rest des Buchs ist der Versuch, diese Generalanklage weitläufig zu belegen.
Tatsächlich ist der Status der Psychoanalyse als Wissenschaft noch heute umstritten. Allerdings ignoriert Onfray die Weiterentwicklungen eines Dreivierteljahrhunderts – ihm geht es um die Entzauberung eines Idols, des offiziellen Gründervaters. Freud habe praktisch keine einzige originelle Idee gehabt, jede seiner Thesen lasse sich bei Vorläufern wie Nietzsche ausformuliert nachweisen; nicht umsonst habe Freud sich geweigert, den Modephilosophen zu lesen, zu nahe seien dessen Ideen an seinen eigenen, habe er geahnt – z.B. von den körperlichen Wurzeln psychischen Geschehens bzw. der Entstehung der Kultur aus der Unterdrückung der Triebe (wer dächte da nicht an Nietzsches Genealogie der Moral?), vom Unbewussten als heimlichem Steuermann (Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung lässt grüßen), von der Verdrängung bzw. Sublimation? Warum habe er sich nie selber nach den Wurzeln seiner Vorstellungen und Weltdeutungen gefragt? Freud habe sich jenseits der Belange derer gewähnt, die er analysierte, er sah sich selber nicht als Produkt seiner Zeit und Kultur, sondern als Entdecker zeitloser Wahrheiten, ja anthropologischer Konstanten.
Im Grunde seien alle seine Schlüsselbegriffe Plagiate, und Freuds Diagnosen – so er die Fälle nicht gleich erfand – seien weithin Projektionen seiner eigenen Probleme auf die Patienten gewesen, die er weniger analysiert, geschweige therapiert bzw. geheilt habe als dass er in ihnen wahlverwandte Obsessionen suchte: Seine eigenen Inzestphantasien zum Beispiel (Onfray widmet viele Seiten dem vorgeblichen Nachweis einer langjährigen Beziehung Freuds mit seiner Schwägerin – bestenfalls eine gewichtete Indizienlage) und überhaupt die Familienbande als Hauptursache der Neurosen – während er die gesellschaftlichen Bedingungen fast vollständig ausgeblendet habe, wie sie Erich Fromm, Marcuse, Reich u.a. thematisierten. Kein Wort auch über Nazis und Faschismus, und Rügen für Kollegen, die psycho-politische Szenarien entwarfen: Wilhelm Reichs Rauswurf ist nur der bekannteste Fall.
Dem Buch fehlen sowohl Index wie Bibliographie, Quellenangaben sind mitunter reichlich vage, und andere als französische Sekundärliteratur scheint dem Autor kaum erwähnenswert. Gleichwohl finden sich in der oft willkürlichen und mitunter fast hasserfüllten Polemik immer wieder bedenkenswerte Fragestellungen, die in der fachinternen Debatte nur selten Aufmerksamkeit erhalten. Zum Beispiel habe Freud die Religion als Ursache von Neurosen gesehen – und brachte doch den Niedergang der Religionen und die Zunahme der Neurosen in einen Zusammenhang. Ein psychohistorischer Diskussionsvorschlag für heute?
Michel Onfray, geboren 1959, ist das enfant terrible unter den zeitgenössischen französischen Philosophen. Bekannt geworden auch hierzulande durch Titel wie "Der Philosoph als Hund" oder "Wir brauchen keinen Gott", ist Onfray zugleich einer der populärsten intellektuellen Autoren – eben weil er hochbrisante akademische Kontroversen in die Alltagsbelange normaler Bildungsbürger übersetzt. Zu diesem Zweck gründete er auch vor einem Jahrzehnt eine Art Volksuniversität, zu der jeder Bürger Zugang hat. Sein jüngstes Buch – der Versuch, Sigmund Freud und die Psychoanalyse zu entzaubern, ja als eine Art Magie vorzustellen, löste einen Skandal in Frankreich und den USA aus.
Besprochen von Eike Gebhardt
Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert
Knaus Verlag, München 2011
640 Seiten, 24,99 Euro