Vom Mittelalter in die Moderne
Ultraorthodoxe Juden in Israel leben abgeschottet von der modernen Welt und nach strengen Regeln. Nur wenige wagen den Ausbruch. Auf die Aussteiger warten ein vollkommen neuer Alltag – und viele Probleme.
Meny Speyer ist im Mittelalter aufgewachsen, nun lebt er in der Moderne. Er feiert mit Hunderten jungen Israelis auf den Straßen des Szeneviertels Florentin in Tel Aviv. Von den Balkonen dröhnt elektronische Musik. Meny tanzt, wirbelt eine Brünette im karierten Minirock durch die Luft, zieht sie an sich, gibt ihr einen Kuss.
Noch vor wenigen Jahren musste der 26-Jährige den Blick senken, wenn er einer Frau auf der Straße begegnete. Meny ist in der Heiligen Stadt Jerusalem aufgewachsen – ultra-orthodox. Die Welt, in der er heute lebt, war ihm völlig fremd. Zum ersten Mal gesehen hat er sie im Kino.
"Es war total aufregend, so etwas Außergewöhnliches zu sehen, wenn man vorher noch nie das eigene Viertel verlassen hat, nichts anderes kennt. Alles, was ich von draußen wusste, kannte ich aus den Geschichten der Rabbis. Für sie sind alle Nicht-Juden böse Menschen, die dich bekehren oder umbringen wollen. Und dann sehe ich in einem Film plötzlich eine ganz neue Welt, von der ich gar nichts weiß."
Zehn Geschwister und strenggläubige Eltern, die ihr Leben Gott und den heiligen Schriften widmen: 20 Jahre lang lebte Meny ultraorthodox, so wie mehr als eine halbe Million Juden in Israel. Viele wohnen in eigenen Vierteln wie Mea Shearim in Jerusalem, völlig abgeschottet.
Wie Schatten eilen die Gläubigen dort in ihren schwarzen Gewändern durch die Gassen. Vorbei an dunklen Buchläden, Wandzeitungen mit religiösen Nachrichten, Ständen mit Perücken und Hüten – denn verheiratete Frauen müssen ihren Kopf bedecken.
Nur selten verlassen die Bewohner ihr Viertel. Zu nicht-religiösen Menschen haben sie kaum Kontakt. Wie Meny einen Blick in die moderne Welt zu werfen, ist verboten: Nichtreligiöse Filme, Zeitungen und Internet sind tabu. Die Religion bestimmt den Alltag. Für Meny konnte sogar Fußballspielen zum Problem werden – zumindest, wenn er den Ball vorher aufpumpen musste.
"Ich setzte gerade die kleine Pumpe an, da sagte mein Vater "Hey, warte mal kurz". Und ich fragte ihn: "Was gibt's?" Er sagte: "Wir müssen nachsehen, ob man das am Sabbat darf." Er hat ein Buch rausgeholt, sagte "okay warte, warte, warte" 15 Minuten hat er aus dem Buch vorgelesen. Und man muss wissen: Ohne den Fußball hätte ich überhaupt nichts machen können – weil ja Sabbat war. Deshalb betete ich "Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass es okay ist, den Ball aufzupumpen, bitte Gott, bitte." 15 Minuten später hat mein Vater das Buch zugeklappt und mit einem großen Lächeln im Gesicht gesagt: "Menachem, es geht nicht.""
Meny begann immer stärker an den religiösen Regeln zu zweifeln, die sein Leben bestimmten. Er stellte viele Fragen.
"Himmel, Hölle – gibt es Gott oder nicht? Was passiert nach dem Tod, was ist der Sinn des Lebens? Warum werden wir geboren? Die Antworten, die ich darauf als Kind bekam, reichten mir nicht. Ganz langsam – als ich älter wurde – wurde mir klar, dass sie überhaupt keine Antworten hatten – und dass ich lieber selbst danach suchen sollte."
Viele Ultraorthodoxe haben wie Meny Zweifel. Doch nur wenige wagen den Schritt in die andere Welt. Wer sich traut, kommt zu Hillel. Die Organisation hilft Aussteigern, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Freiwillige wie Irit Paneth unterstützen sie dabei, den Alltag zu meistern – denn die Aussteiger sind es nicht gewohnt, alleine zu leben, eigene Entscheidungen zu treffen.
"Du wachst morgens auf und sofort musst du Regeln befolgen: Welches Bein darf zuerst den Boden berühren, welchen Schuh und welchen Socken ziehst du zuerst an. Dein ganzes Leben, alles ist festgelegt - was du isst, was du denkst, was man dir erlaubt zu denken. Und du musst dich daran halten – jeden Tag, jede Sekunde deines Lebens. Das lässt dir keine Zeit, keine Freiheit, irgendetwas eigenes zu denken oder zu fühlen. Und wenn Du doch mal einen eigenen Gedanken hast, fühlst du dich wie ein Verbrecher."
Erst strenge Regeln, ein fremdbestimmtes Leben – dann absolute Freiheit. Die Aussteiger müssen völlig neu anfangen, herausfinden wer sie sind, was sie im Leben wollen. Nicht einfach, weiß Irit Paneth.
"Sie haben keine Bildung, können deshalb keinen Beruf ergreifen. Sie sprechen kein Wort Englisch. Sie benutzen keine Computer, die meisten können nicht Auto fahren. Sie wissen kaum, wie man ein Bankkonto führt. Sie können nur wenige Dinge, die in der modernen Gesellschaft wichtig sind."
Wenige wagen den Schritt in ein neues Leben. Etwa 2000 junge Ultraorthodoxe haben sich an Hillel gewandt, in den letzten 20 Jahren. Kein Job, kein Geld, keine Wohnung, die Aussteiger müssen viel aufholen. Ihre Bildung ist minimal: Lesen, Schreiben, das Einmaleins und die Thora – mehr stand in den Religionsschulen nicht auf dem Stundenplan. Auch in Sachen Mode brauchen sie Nachhilfe. Bunte Kleidung ist neu für sie, Jeans haben sie noch nie getragen. Deshalb hilft Irit Paneth oft beim Kleiderkauf.
"Eine Aussteigerin hat in einem Laden Hosen anprobiert. Doch sie traute sich nicht mehr aus der Umkleidekabine heraus. Sie fühlte sich völlig nackt."
Auch für Moshe Shachar, 25, ist alles neu: Bis vor kurzem trug er noch einen Bart und gezwirbelte Schläfenlocken, auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut. Seine Kleidung war ausschließlich schwarz-weiß. Nun steht er in der Kleiderkammer von Hillel in Jerusalem. Hier stapeln sich bunte T-Shirts, Hemden, Hosen, Röcke und Schuhe bis unter die Decke. Moshe probiert ein knallgelbes T-Shirt an. Dann dreht er sich in einer hellen Cordhose stolz vor dem Spiegel. Die Sachen gefallen ihm. Zwei Schekel, etwa vierzig Cent, wirft er in die flache Blechdose im untersten Regalfach. Jetzt gehört das neue Outfit ihm.
"Als ich zum ersten Mal hierher kam, wusste ich nicht, wie man sich richtig anzieht, welche Hose zu welchem T-Shirt passt. Ich kam einfach her und nahm mir irgendeine Hose und irgendein T-Shirt heraus. Mit der Zeit habe ich dann kapiert, wie man sich besser anzieht."
Moshe findet sich langsam zurecht in seinem neuen Leben, das erst vor drei Jahren begann. Mittlerweile besucht er sogar Kurse an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Und vor kurzem ist er in seine erste eigene Wohnung gezogen: ein winziges Zimmer in einer WG am Stadtrand. Möbel hat Moshe noch nicht. Auf dem Boden liegt eine Matratze, seine Kleidung stapelt er in Supermarkttüten in der Zimmerecke. In einem Restaurant verdient er sich als Kellner ein wenig Geld, das reicht gerade zum Überleben. Erspartes hat er nicht. Doch Moshe hielt dies nicht davon ab zu gehen.
"Du merkst, dass das nicht das ist, was du denkst, nicht das, was du willst und nicht, was du sein könntest. Ich habe sehr lange überlegt, bis ich ausgestiegen bin. Als ich so weit war, bin ich erstmal zur Armee gegangen. Die Armee ist so ein bisschen wie eine Familie. Aber es ist immer noch alles sehr hart, weil du dich so fühlst, als müsstest du deine komplette Welt hinter Dir lassen. Eigentlich hast du ja eine Wohnung und eine Familie und jeder will doch bei seiner Familie sein. Das ist wirklich das Schlimmste daran auszusteigen."
Viele Familien verstoßen ihre Söhne und Töchter, sobald sie sich von der Religion abwenden. Sie trauern sieben Tage – denn ihre Kinder sind für sie tot. Einige Aussteiger zerbrechen an der Trennung, manche kehren zurück in ihr altes Leben. Die Angst, seine Familie zu verlieren, ließ auch Meny Speyer lange zögern.
"Ich war total zerrissen – zwischen der Liebe zu meinen Eltern, meiner Familie – und dem, was sich für mich richtig angefühlt hat. Ich war egoistisch. Aber was ist falsch daran? Ich wollte einfach das Beste für mich."
Meny hat Glück gehabt, seine Familie akzeptiert mittlerweile, wie er lebt: in der Welt, die ihn seit seinem ersten Kinobesuch nicht mehr losgelassen hat. Heute ist Meny selbst Filmemacher. Jetzt kann er das Publikum in andere Welten entführen. Das Thema seines ersten Films: ultra-orthodoxe Kindheit.
Noch vor wenigen Jahren musste der 26-Jährige den Blick senken, wenn er einer Frau auf der Straße begegnete. Meny ist in der Heiligen Stadt Jerusalem aufgewachsen – ultra-orthodox. Die Welt, in der er heute lebt, war ihm völlig fremd. Zum ersten Mal gesehen hat er sie im Kino.
"Es war total aufregend, so etwas Außergewöhnliches zu sehen, wenn man vorher noch nie das eigene Viertel verlassen hat, nichts anderes kennt. Alles, was ich von draußen wusste, kannte ich aus den Geschichten der Rabbis. Für sie sind alle Nicht-Juden böse Menschen, die dich bekehren oder umbringen wollen. Und dann sehe ich in einem Film plötzlich eine ganz neue Welt, von der ich gar nichts weiß."
Zehn Geschwister und strenggläubige Eltern, die ihr Leben Gott und den heiligen Schriften widmen: 20 Jahre lang lebte Meny ultraorthodox, so wie mehr als eine halbe Million Juden in Israel. Viele wohnen in eigenen Vierteln wie Mea Shearim in Jerusalem, völlig abgeschottet.
Wie Schatten eilen die Gläubigen dort in ihren schwarzen Gewändern durch die Gassen. Vorbei an dunklen Buchläden, Wandzeitungen mit religiösen Nachrichten, Ständen mit Perücken und Hüten – denn verheiratete Frauen müssen ihren Kopf bedecken.
Nur selten verlassen die Bewohner ihr Viertel. Zu nicht-religiösen Menschen haben sie kaum Kontakt. Wie Meny einen Blick in die moderne Welt zu werfen, ist verboten: Nichtreligiöse Filme, Zeitungen und Internet sind tabu. Die Religion bestimmt den Alltag. Für Meny konnte sogar Fußballspielen zum Problem werden – zumindest, wenn er den Ball vorher aufpumpen musste.
"Ich setzte gerade die kleine Pumpe an, da sagte mein Vater "Hey, warte mal kurz". Und ich fragte ihn: "Was gibt's?" Er sagte: "Wir müssen nachsehen, ob man das am Sabbat darf." Er hat ein Buch rausgeholt, sagte "okay warte, warte, warte" 15 Minuten hat er aus dem Buch vorgelesen. Und man muss wissen: Ohne den Fußball hätte ich überhaupt nichts machen können – weil ja Sabbat war. Deshalb betete ich "Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass es okay ist, den Ball aufzupumpen, bitte Gott, bitte." 15 Minuten später hat mein Vater das Buch zugeklappt und mit einem großen Lächeln im Gesicht gesagt: "Menachem, es geht nicht.""
Meny begann immer stärker an den religiösen Regeln zu zweifeln, die sein Leben bestimmten. Er stellte viele Fragen.
"Himmel, Hölle – gibt es Gott oder nicht? Was passiert nach dem Tod, was ist der Sinn des Lebens? Warum werden wir geboren? Die Antworten, die ich darauf als Kind bekam, reichten mir nicht. Ganz langsam – als ich älter wurde – wurde mir klar, dass sie überhaupt keine Antworten hatten – und dass ich lieber selbst danach suchen sollte."
Viele Ultraorthodoxe haben wie Meny Zweifel. Doch nur wenige wagen den Schritt in die andere Welt. Wer sich traut, kommt zu Hillel. Die Organisation hilft Aussteigern, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Freiwillige wie Irit Paneth unterstützen sie dabei, den Alltag zu meistern – denn die Aussteiger sind es nicht gewohnt, alleine zu leben, eigene Entscheidungen zu treffen.
"Du wachst morgens auf und sofort musst du Regeln befolgen: Welches Bein darf zuerst den Boden berühren, welchen Schuh und welchen Socken ziehst du zuerst an. Dein ganzes Leben, alles ist festgelegt - was du isst, was du denkst, was man dir erlaubt zu denken. Und du musst dich daran halten – jeden Tag, jede Sekunde deines Lebens. Das lässt dir keine Zeit, keine Freiheit, irgendetwas eigenes zu denken oder zu fühlen. Und wenn Du doch mal einen eigenen Gedanken hast, fühlst du dich wie ein Verbrecher."
Erst strenge Regeln, ein fremdbestimmtes Leben – dann absolute Freiheit. Die Aussteiger müssen völlig neu anfangen, herausfinden wer sie sind, was sie im Leben wollen. Nicht einfach, weiß Irit Paneth.
"Sie haben keine Bildung, können deshalb keinen Beruf ergreifen. Sie sprechen kein Wort Englisch. Sie benutzen keine Computer, die meisten können nicht Auto fahren. Sie wissen kaum, wie man ein Bankkonto führt. Sie können nur wenige Dinge, die in der modernen Gesellschaft wichtig sind."
Wenige wagen den Schritt in ein neues Leben. Etwa 2000 junge Ultraorthodoxe haben sich an Hillel gewandt, in den letzten 20 Jahren. Kein Job, kein Geld, keine Wohnung, die Aussteiger müssen viel aufholen. Ihre Bildung ist minimal: Lesen, Schreiben, das Einmaleins und die Thora – mehr stand in den Religionsschulen nicht auf dem Stundenplan. Auch in Sachen Mode brauchen sie Nachhilfe. Bunte Kleidung ist neu für sie, Jeans haben sie noch nie getragen. Deshalb hilft Irit Paneth oft beim Kleiderkauf.
"Eine Aussteigerin hat in einem Laden Hosen anprobiert. Doch sie traute sich nicht mehr aus der Umkleidekabine heraus. Sie fühlte sich völlig nackt."
Auch für Moshe Shachar, 25, ist alles neu: Bis vor kurzem trug er noch einen Bart und gezwirbelte Schläfenlocken, auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut. Seine Kleidung war ausschließlich schwarz-weiß. Nun steht er in der Kleiderkammer von Hillel in Jerusalem. Hier stapeln sich bunte T-Shirts, Hemden, Hosen, Röcke und Schuhe bis unter die Decke. Moshe probiert ein knallgelbes T-Shirt an. Dann dreht er sich in einer hellen Cordhose stolz vor dem Spiegel. Die Sachen gefallen ihm. Zwei Schekel, etwa vierzig Cent, wirft er in die flache Blechdose im untersten Regalfach. Jetzt gehört das neue Outfit ihm.
"Als ich zum ersten Mal hierher kam, wusste ich nicht, wie man sich richtig anzieht, welche Hose zu welchem T-Shirt passt. Ich kam einfach her und nahm mir irgendeine Hose und irgendein T-Shirt heraus. Mit der Zeit habe ich dann kapiert, wie man sich besser anzieht."
Moshe findet sich langsam zurecht in seinem neuen Leben, das erst vor drei Jahren begann. Mittlerweile besucht er sogar Kurse an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Und vor kurzem ist er in seine erste eigene Wohnung gezogen: ein winziges Zimmer in einer WG am Stadtrand. Möbel hat Moshe noch nicht. Auf dem Boden liegt eine Matratze, seine Kleidung stapelt er in Supermarkttüten in der Zimmerecke. In einem Restaurant verdient er sich als Kellner ein wenig Geld, das reicht gerade zum Überleben. Erspartes hat er nicht. Doch Moshe hielt dies nicht davon ab zu gehen.
"Du merkst, dass das nicht das ist, was du denkst, nicht das, was du willst und nicht, was du sein könntest. Ich habe sehr lange überlegt, bis ich ausgestiegen bin. Als ich so weit war, bin ich erstmal zur Armee gegangen. Die Armee ist so ein bisschen wie eine Familie. Aber es ist immer noch alles sehr hart, weil du dich so fühlst, als müsstest du deine komplette Welt hinter Dir lassen. Eigentlich hast du ja eine Wohnung und eine Familie und jeder will doch bei seiner Familie sein. Das ist wirklich das Schlimmste daran auszusteigen."
Viele Familien verstoßen ihre Söhne und Töchter, sobald sie sich von der Religion abwenden. Sie trauern sieben Tage – denn ihre Kinder sind für sie tot. Einige Aussteiger zerbrechen an der Trennung, manche kehren zurück in ihr altes Leben. Die Angst, seine Familie zu verlieren, ließ auch Meny Speyer lange zögern.
"Ich war total zerrissen – zwischen der Liebe zu meinen Eltern, meiner Familie – und dem, was sich für mich richtig angefühlt hat. Ich war egoistisch. Aber was ist falsch daran? Ich wollte einfach das Beste für mich."
Meny hat Glück gehabt, seine Familie akzeptiert mittlerweile, wie er lebt: in der Welt, die ihn seit seinem ersten Kinobesuch nicht mehr losgelassen hat. Heute ist Meny selbst Filmemacher. Jetzt kann er das Publikum in andere Welten entführen. Das Thema seines ersten Films: ultra-orthodoxe Kindheit.