Vom Nordpol bis zum Himalaya
"Atlas eines ängstlichen Mannes" nennt der österreichische Autor und Weltwanderer Christoph Ransmayr seine Sammlung von 70 Episoden und Reiseskizzen, in denen er Beobachtungen auf seinen Weltfahrten, Erinnerungen und Begegnungen unterwegs in eine Erzählform gebracht hat.
Er kartografiert darin nahe und ferne Orte, von seiner Heimat Oberösterreich bis zum Nordpol und von den weltabgewandten Südsee-Inseln bis zu den Hochtälern des Himalaya. Selten umfassen die einzelnen Episoden mehr als acht bis zehn Seiten. Es sind Momentaufnahmen, unterwegs notiert und danach aus der Erinnerung zu sorgfältig durchgestalteten kleinen Erzähl-Kunstwerken geformt, sei es ein tragisches oder groteskes Missgeschick, eine freundliche Begegnung oder ein stilles Desaster.
Zusammengehalten und vor dem Auseinanderdriften bewahrt wird diese Kollektion von Reiseeindrücken durch die Erzählerstimme, die jede Episode mit den gleichen, fast biblisch offenbarenden Worten anheben lässt: "Ich sah …". Solcherart gelingt es dem Autor, sein heterogenes, zwischen Zeiten und Schauplätzen kühn hin und her springendes, allenfalls assoziativ gereihtes Erzählmaterial mit einer narrativen Klammer zu versehen. Der Erzähler ist Augenzeuge, Beobachter, Zufallspassant, Zuhörer, Aufzeichner und Notierer. Sein Erzählgestus ist zurückhaltend, besonnen und uneitel, gekennzeichnet von größtmöglicher Offenheit und Aufmerksamkeit für die Welt um ihn herum und größtmöglicher Diskretion, was die eigene Befindlichkeit angeht. Nur gelegentlich gestattet er sich einen kurzen Wechsel in einen persönlichen, gar autobiografischen Modus, etwa wenn er vom Sekundentod des eigenen Vaters auf einer Parkbank auf dem Marktplatz von Lambach in Oberösterreich berichtet.
Das Besondere und Reizvolle an diesem genretechnisch schwer etikettierbaren Reiseerzählungsband ist, dass man die einzelnen Episoden in beliebiger Reihenfolge lesen kann. Jede Erzählung ist in sich abgeschlossen, und das Ganze gehorcht ohnehin keiner chronologischen oder geografischen Ordnung (man würde sich allerdings ein Register mit genauerer Auskunft über die Entstehungszeit der jeweiligen Episoden wünschen, was der Band leider schuldig bleibt). Man kann überall einsteigen und nach Lust und Laune durch das Buch flanieren. In einem Rutsch durchlesen lässt es sich allerdings nicht: Das Eigengewicht und Eigentimbre jeder Episode erfordert Innehalten und langsames Lese-Tempo.
Der Erzähler trifft auf der Insel Pitcairn die Nachfahrin eines der Meuterer von der "Bounty"; er sieht chinesischen Kalligraphen zu, wie sie rasch verdunstende Wasserzeichen auf Steinböden pinseln; er lauscht in einer Höhle im Himalaya drei flüsternd betenden Mönchen und schläft geborgen ein.
Doch warum nennt sich der Erzähler einen "ängstlichen Mann"? Gemeint ist einer, der sich vorsichtig und umsichtig durch die Welt bewegt. Der ängstliche Mann rechne mit allem, gehe aber, wenn auch manchmal bange und zweifelnd, seiner Wege, sagt Ransmayr in einem Interview. Er selbst hat es sein Reiseleben lang genau so gehalten.
Besprochen von Sigrid Löffler
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
456 Seiten, 24,99 Euro
Zusammengehalten und vor dem Auseinanderdriften bewahrt wird diese Kollektion von Reiseeindrücken durch die Erzählerstimme, die jede Episode mit den gleichen, fast biblisch offenbarenden Worten anheben lässt: "Ich sah …". Solcherart gelingt es dem Autor, sein heterogenes, zwischen Zeiten und Schauplätzen kühn hin und her springendes, allenfalls assoziativ gereihtes Erzählmaterial mit einer narrativen Klammer zu versehen. Der Erzähler ist Augenzeuge, Beobachter, Zufallspassant, Zuhörer, Aufzeichner und Notierer. Sein Erzählgestus ist zurückhaltend, besonnen und uneitel, gekennzeichnet von größtmöglicher Offenheit und Aufmerksamkeit für die Welt um ihn herum und größtmöglicher Diskretion, was die eigene Befindlichkeit angeht. Nur gelegentlich gestattet er sich einen kurzen Wechsel in einen persönlichen, gar autobiografischen Modus, etwa wenn er vom Sekundentod des eigenen Vaters auf einer Parkbank auf dem Marktplatz von Lambach in Oberösterreich berichtet.
Das Besondere und Reizvolle an diesem genretechnisch schwer etikettierbaren Reiseerzählungsband ist, dass man die einzelnen Episoden in beliebiger Reihenfolge lesen kann. Jede Erzählung ist in sich abgeschlossen, und das Ganze gehorcht ohnehin keiner chronologischen oder geografischen Ordnung (man würde sich allerdings ein Register mit genauerer Auskunft über die Entstehungszeit der jeweiligen Episoden wünschen, was der Band leider schuldig bleibt). Man kann überall einsteigen und nach Lust und Laune durch das Buch flanieren. In einem Rutsch durchlesen lässt es sich allerdings nicht: Das Eigengewicht und Eigentimbre jeder Episode erfordert Innehalten und langsames Lese-Tempo.
Der Erzähler trifft auf der Insel Pitcairn die Nachfahrin eines der Meuterer von der "Bounty"; er sieht chinesischen Kalligraphen zu, wie sie rasch verdunstende Wasserzeichen auf Steinböden pinseln; er lauscht in einer Höhle im Himalaya drei flüsternd betenden Mönchen und schläft geborgen ein.
Doch warum nennt sich der Erzähler einen "ängstlichen Mann"? Gemeint ist einer, der sich vorsichtig und umsichtig durch die Welt bewegt. Der ängstliche Mann rechne mit allem, gehe aber, wenn auch manchmal bange und zweifelnd, seiner Wege, sagt Ransmayr in einem Interview. Er selbst hat es sein Reiseleben lang genau so gehalten.
Besprochen von Sigrid Löffler
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
456 Seiten, 24,99 Euro