Vom politischen Einsatz der Sprache
Begriffe wie Staat, Fortschritt, Geschichte, Aufklärung, Bildung oder Emanzipation sind uns geläufig. Welchen Ursprung diese Begriffe haben und wie sich ihre inhaltliche Bedeutung im Laufe der Zeit wandelte, darüber klärt der Historiker Reinhart Koselleck den Leser in seinem Buch "Begriffsgeschichten" auf.
Von 1972 bis 1997 hat Reinhart Koselleck ein Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland herausgegeben, die "Geschichtlichen Grundbegriffe". In ihm werden wir über die Herkunft solcher Begriffe aufgeklärt. Man übertreibt nicht, wenn man dieses Lexikon die bedeutendste Leistung der deutschen Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg nennt. Im Februar dieses Jahres ist Reinhart Koselleck 82-jährig in Bielefeld, wo er auch unterrichtet hatte, gestorben. Jetzt versammelt ein Band die wichtigsten seiner "Begriffsgeschichten".
Die Spannweite dieser Geschichten ist enorm. Wann zum Beispiel, fragt Koselleck, wurde ein König zum ersten Mal von einem Intellektuellen geduzt? Das war 1776, der König war Friedrich der Große, und der Intellektuelle hieß Guillaume-Thomas Raynal, ein Freund des Philosophen Diderot. In seiner berühmten "Geschichte beider Indien" fordert er Friedrich II., wie der Große eigentlich hieß, dazu auf, statt des Philosophenkönigs, als den ihn Europa damals ansprach, besser ein Bürgerkönig zu sein. Und dabei duzte er den Alten Fritz, so wie er ein paar Seiten vorher seinen eigenen Herrn, Ludwig XVI. geduzt hatte.
Warum? Kosellecks Antwort: Um zu zeigen, dass die Herrscher für ihn nur Menschen sind. "Wer König duze", so meinte Diderot, "verwandelt sich von einem Untertan in einen Abgesandten der Nation, einen Vertreter der Tugend, der Vernunft, der Gleichheit, der Humanität".
Diese Anekdote führt mitten ins Zentrum von Kosellecks Begriffsgeschichten. Denn sie alle handeln vom politischen Einsatz der Sprache. Und sie alle stellen fest, dass in der Zeit zwischen 1750 und 1820 alle politischen Begriffe nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Funktion ändern. Sie werden polemisch. Sie werden utopisch – denn noch gab es zum Beispiel die Nation gar nicht, in der Raynal ein Abgeordneter hätte sein können, noch war der König nicht bloß ein Mensch. Und sie werden abstrakt. Denn sie sollen nicht mehr nur Erfahrungen formulieren, sie sollen Erwartungen durchsetzen. Und zwar große Erwartungen, revolutionäre.
In dieser Zeit beginnt man darum von "der Geschichte" zu sprechen, so als gebe es oberhalb der vielen Geschichten noch einen allgemeinen Prozess, dem sie alle gehorchen. Das Wort "Fortschritt" ist auch so ein Kollektivsingular: Es meint nicht mehr, dass irgendetwas vorankommt, sondern es bündelt viele einzelne Erfahrungen der Verbesserung menschlicher Lebensumstände – in der Technik, der Medizin, der Wirtschaft oder der Erziehung - zu der Vorstellung, dass die ganze "Menschheit" (der dritte Kollektivsingular!) sich auf einer Bahn zu immer größerer Vollkommenheit bewegt. Man erzählt nicht mehr Geschichten von Menschen, denen es besser geht – man erzählt den Fortschritt der Geschichte der Menschheit.
Koselleck zeigt seinen Lesern an Dutzenden von Beispielen, wie sich die Bedeutungen von Begriffen in jener Zeit verschoben haben. Wie etwa aus der Forderung, der Mensch müsse aufgeklärt werden, die Forderung wurde, er solle sich bilden. Oder welche Wandlungen Begriffe wie "Patriotismus" und "Toleranz" durchgemacht haben. Und was es in Deutschland, England und Frankreich zu verschiedenen Zeiten hieß, ein "Bürger" zu sein.
Man hört aus diesen Aufsätzen, von denen man jeden mit großer Spannung liest, die Stimme eines Historikers, der uns vor Übertreibungen warnen möchte: Vor dem Glauben an die großen Kollektivsingulare. Koselleck, 1923 geboren, hat im Dritten Reich den Terror erlebt, den eine zum Staat gewordene Ideologie bedeutet. Eine andere Variante berief sich ganz ausdrücklich auf "die Geschichte" und "den Fortschritt". Für Koselleck gehört es zur Aufklärung, auch diese bösen Folgen ihrer guten Absichten und ihrer Geschichtsphilosophie in den Blick zu nehmen. Seinen Begriffsgeschichten sind darum nicht nur Beispiele glänzend formulierter, gut erzählter Gelehrsamkeit, sondern auch ein Beitrag zur politischen Bildung.
Rezensiert von Jürgen Kaube
Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache
Suhrkamp Verlag, 2006
569 Seiten, 38 Euro
Die Spannweite dieser Geschichten ist enorm. Wann zum Beispiel, fragt Koselleck, wurde ein König zum ersten Mal von einem Intellektuellen geduzt? Das war 1776, der König war Friedrich der Große, und der Intellektuelle hieß Guillaume-Thomas Raynal, ein Freund des Philosophen Diderot. In seiner berühmten "Geschichte beider Indien" fordert er Friedrich II., wie der Große eigentlich hieß, dazu auf, statt des Philosophenkönigs, als den ihn Europa damals ansprach, besser ein Bürgerkönig zu sein. Und dabei duzte er den Alten Fritz, so wie er ein paar Seiten vorher seinen eigenen Herrn, Ludwig XVI. geduzt hatte.
Warum? Kosellecks Antwort: Um zu zeigen, dass die Herrscher für ihn nur Menschen sind. "Wer König duze", so meinte Diderot, "verwandelt sich von einem Untertan in einen Abgesandten der Nation, einen Vertreter der Tugend, der Vernunft, der Gleichheit, der Humanität".
Diese Anekdote führt mitten ins Zentrum von Kosellecks Begriffsgeschichten. Denn sie alle handeln vom politischen Einsatz der Sprache. Und sie alle stellen fest, dass in der Zeit zwischen 1750 und 1820 alle politischen Begriffe nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Funktion ändern. Sie werden polemisch. Sie werden utopisch – denn noch gab es zum Beispiel die Nation gar nicht, in der Raynal ein Abgeordneter hätte sein können, noch war der König nicht bloß ein Mensch. Und sie werden abstrakt. Denn sie sollen nicht mehr nur Erfahrungen formulieren, sie sollen Erwartungen durchsetzen. Und zwar große Erwartungen, revolutionäre.
In dieser Zeit beginnt man darum von "der Geschichte" zu sprechen, so als gebe es oberhalb der vielen Geschichten noch einen allgemeinen Prozess, dem sie alle gehorchen. Das Wort "Fortschritt" ist auch so ein Kollektivsingular: Es meint nicht mehr, dass irgendetwas vorankommt, sondern es bündelt viele einzelne Erfahrungen der Verbesserung menschlicher Lebensumstände – in der Technik, der Medizin, der Wirtschaft oder der Erziehung - zu der Vorstellung, dass die ganze "Menschheit" (der dritte Kollektivsingular!) sich auf einer Bahn zu immer größerer Vollkommenheit bewegt. Man erzählt nicht mehr Geschichten von Menschen, denen es besser geht – man erzählt den Fortschritt der Geschichte der Menschheit.
Koselleck zeigt seinen Lesern an Dutzenden von Beispielen, wie sich die Bedeutungen von Begriffen in jener Zeit verschoben haben. Wie etwa aus der Forderung, der Mensch müsse aufgeklärt werden, die Forderung wurde, er solle sich bilden. Oder welche Wandlungen Begriffe wie "Patriotismus" und "Toleranz" durchgemacht haben. Und was es in Deutschland, England und Frankreich zu verschiedenen Zeiten hieß, ein "Bürger" zu sein.
Man hört aus diesen Aufsätzen, von denen man jeden mit großer Spannung liest, die Stimme eines Historikers, der uns vor Übertreibungen warnen möchte: Vor dem Glauben an die großen Kollektivsingulare. Koselleck, 1923 geboren, hat im Dritten Reich den Terror erlebt, den eine zum Staat gewordene Ideologie bedeutet. Eine andere Variante berief sich ganz ausdrücklich auf "die Geschichte" und "den Fortschritt". Für Koselleck gehört es zur Aufklärung, auch diese bösen Folgen ihrer guten Absichten und ihrer Geschichtsphilosophie in den Blick zu nehmen. Seinen Begriffsgeschichten sind darum nicht nur Beispiele glänzend formulierter, gut erzählter Gelehrsamkeit, sondern auch ein Beitrag zur politischen Bildung.
Rezensiert von Jürgen Kaube
Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache
Suhrkamp Verlag, 2006
569 Seiten, 38 Euro