Vom Schicksal auf die Probe gestellt
Ach ja, der Franz, der Franz Biberkopf. Und seine Geschichte. Damals, in Berlin. 20er-Jahre. Gerade aus dem Knast.
"Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei."
Liest uns Günter Lamprecht vor.
"Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den anderen. In Sträflingskleidung. Jetzt ging er. Sie harkten hinten. Er war frei."
Da haben sich nun wirklich zwei getroffen, alle Achtung, der Biberkopf und der Lamprecht. Oder besser: der Text von Alfred Döblin, "Berlin Alexanderplatz", 1929 erschienen, der sogenannte erste deutsche Großstadtroman, und der Schauspieler, der bei Rainer Werner Fassbinder 1980 die Rolle des Franz Biberkopf spielte.
"Er ließ Elektrische auf Elektrisch vorbeifahren. Drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei. Zeigte ihm seine Bahn. Er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen. Schrecklich, Franz, häh?! Warum schrecklich?! Die vier Jahre waren um."
"Berlin Alexanderplatz" erzählt von einem Mann, der vom Schicksal, gut, vom Menschen gemachten Schicksal auf die Probe gestellt wird: Raus aus dem Knast muss er sich bewähren, muss zeigen, dass er in dieser brodelnden flirrenden Großstadt, diesem Berlin der 1920er, ehrlich bleiben kann, will oder besser noch: darf. Ehrlich bleiben und trotzdem überleben. Eine große Aufgabe. Franz Biberkopf wird daran scheitern im Mahlstrom der Metropole.
"Berlin Alexanderplatz" zu verfilmen lag immer nahe, denn schon bei Erscheinen des Romans sprach man von einem "Wortfilm". Döblin entwickelte eine epische Montagetechnik; der Roman ist wie ein Bewusstseinsstrom, ein gigantischer innerer Monolog dieses Franz Biberkopf; ein Innen, das immer wieder in die Realität springt und zurück. Eine, könnte man sagen, "Schnitttechnik", die Döblin entwickelte, die uns inzwischen aus dem Kino sehr vertraut ist. Aber der Vielstimmigkeit und Komplexität des Textes in einer Lesung gerecht werden? Geht das? Ist das vorstellbar? Franz Biberkopf im Kino:
"Es gab schon ein anderes Bild. Er sah sie schon herauskippen und lang da liegen. Er kaute an seiner Zunge. Wat war dat? Das ging auf ihn über und machte ihn schwach. Ein Weibstück. Ich brauch ein Weib. Dass er daran nicht gedacht hatte."
Nach seiner Darstellung des Franz Biberkopf in Rainer Werner Fassbinders TV-Verfilmung las Günter Lamprecht den Döblin-Text live vor Publikum. Die Lesung ist jetzt – 2 CDs, 106 Minuten Hörzeit – als Hörbuch erschienen. Zusammen mit kurzen Akzenten der Musik von Peer Raben, die der damals für Fassbinder komponierte. Etwas überflüssig hier im Hörbuch, denn Günter Lamprechts Lesung allein ist schon musikalisch, rhythmisch, betörend genug.
Reinhold, Franzens vorgeblicher Freund, ermordet dessen Geliebte Mieze.
"Den wolltest du umbringen, den hast du unjücklich jemacht. Und jetzt willst du mir haben, du Saukerl. – Ja, det will ick. – Du Saukerl, dir spuck ick an! – Er hält ihr den Mund zu. – Willst du nu? – Es ist stockfinster. Ihr Gesicht ist erschlagen, ihre Zähne erschlagen, ihre Augen erschlagen, ihr Mund, ihr Lippen, ihr Zunge, ihr Hals, ihr Leib, ihre Beine, ihr Schoß. – Ich bin deine, du sollst mir trösten."
Bei Günter Lamprechts Lesung ... nun, eigentlich ein falsches Wort ... man müsste sagen: Bei Günter Lamprechts Darstellung, dieser akustischen Darstellung des – gekürzten – Textes von Döblins Roman, passiert etwas, was vollkommen verblüffend ist: "Berlin Alexanderplatz" wird zu einem rhythmischen Ganzen, mit Tempowechsel, Wechsel der Tonarten, Improvisieren übers Thema, erneutem Wechsel und Zurückkehren zu eben diesem Thema, das man schlicht auf den Fragesatz bringen kann: Was ist der Mensch?
Über Günter Lamprecht, über den muss man nach etwa 106 Minuten die Frage stellen: Hat dieser Mann sich den Text einverleibt? Was ja schon allein großartig wäre. Oder – was zweifellos das Größte einer Lesung und die größte Leistung eines Vorlesers überhaupt ist – hat er sich vom Text einverleiben lassen? Bei diesem Hörbuch ist eben dieses Größte geschehen. "Günter Lamprecht muss im Kopf meines Vaters schon existiert haben, als er den Alexanderplatz schriebt," meinte einmal Alfred Döblins Sohn Stefan. Sag ich doch.
Besprochen von Hartwig Tegeler
Alfred Döblin: Berlin-Alexanderplatz
Gelesen von Günter Lamprecht
Patmos Verlag 2009
2 CDs
Liest uns Günter Lamprecht vor.
"Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den anderen. In Sträflingskleidung. Jetzt ging er. Sie harkten hinten. Er war frei."
Da haben sich nun wirklich zwei getroffen, alle Achtung, der Biberkopf und der Lamprecht. Oder besser: der Text von Alfred Döblin, "Berlin Alexanderplatz", 1929 erschienen, der sogenannte erste deutsche Großstadtroman, und der Schauspieler, der bei Rainer Werner Fassbinder 1980 die Rolle des Franz Biberkopf spielte.
"Er ließ Elektrische auf Elektrisch vorbeifahren. Drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei. Zeigte ihm seine Bahn. Er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen. Schrecklich, Franz, häh?! Warum schrecklich?! Die vier Jahre waren um."
"Berlin Alexanderplatz" erzählt von einem Mann, der vom Schicksal, gut, vom Menschen gemachten Schicksal auf die Probe gestellt wird: Raus aus dem Knast muss er sich bewähren, muss zeigen, dass er in dieser brodelnden flirrenden Großstadt, diesem Berlin der 1920er, ehrlich bleiben kann, will oder besser noch: darf. Ehrlich bleiben und trotzdem überleben. Eine große Aufgabe. Franz Biberkopf wird daran scheitern im Mahlstrom der Metropole.
"Berlin Alexanderplatz" zu verfilmen lag immer nahe, denn schon bei Erscheinen des Romans sprach man von einem "Wortfilm". Döblin entwickelte eine epische Montagetechnik; der Roman ist wie ein Bewusstseinsstrom, ein gigantischer innerer Monolog dieses Franz Biberkopf; ein Innen, das immer wieder in die Realität springt und zurück. Eine, könnte man sagen, "Schnitttechnik", die Döblin entwickelte, die uns inzwischen aus dem Kino sehr vertraut ist. Aber der Vielstimmigkeit und Komplexität des Textes in einer Lesung gerecht werden? Geht das? Ist das vorstellbar? Franz Biberkopf im Kino:
"Es gab schon ein anderes Bild. Er sah sie schon herauskippen und lang da liegen. Er kaute an seiner Zunge. Wat war dat? Das ging auf ihn über und machte ihn schwach. Ein Weibstück. Ich brauch ein Weib. Dass er daran nicht gedacht hatte."
Nach seiner Darstellung des Franz Biberkopf in Rainer Werner Fassbinders TV-Verfilmung las Günter Lamprecht den Döblin-Text live vor Publikum. Die Lesung ist jetzt – 2 CDs, 106 Minuten Hörzeit – als Hörbuch erschienen. Zusammen mit kurzen Akzenten der Musik von Peer Raben, die der damals für Fassbinder komponierte. Etwas überflüssig hier im Hörbuch, denn Günter Lamprechts Lesung allein ist schon musikalisch, rhythmisch, betörend genug.
Reinhold, Franzens vorgeblicher Freund, ermordet dessen Geliebte Mieze.
"Den wolltest du umbringen, den hast du unjücklich jemacht. Und jetzt willst du mir haben, du Saukerl. – Ja, det will ick. – Du Saukerl, dir spuck ick an! – Er hält ihr den Mund zu. – Willst du nu? – Es ist stockfinster. Ihr Gesicht ist erschlagen, ihre Zähne erschlagen, ihre Augen erschlagen, ihr Mund, ihr Lippen, ihr Zunge, ihr Hals, ihr Leib, ihre Beine, ihr Schoß. – Ich bin deine, du sollst mir trösten."
Bei Günter Lamprechts Lesung ... nun, eigentlich ein falsches Wort ... man müsste sagen: Bei Günter Lamprechts Darstellung, dieser akustischen Darstellung des – gekürzten – Textes von Döblins Roman, passiert etwas, was vollkommen verblüffend ist: "Berlin Alexanderplatz" wird zu einem rhythmischen Ganzen, mit Tempowechsel, Wechsel der Tonarten, Improvisieren übers Thema, erneutem Wechsel und Zurückkehren zu eben diesem Thema, das man schlicht auf den Fragesatz bringen kann: Was ist der Mensch?
Über Günter Lamprecht, über den muss man nach etwa 106 Minuten die Frage stellen: Hat dieser Mann sich den Text einverleibt? Was ja schon allein großartig wäre. Oder – was zweifellos das Größte einer Lesung und die größte Leistung eines Vorlesers überhaupt ist – hat er sich vom Text einverleiben lassen? Bei diesem Hörbuch ist eben dieses Größte geschehen. "Günter Lamprecht muss im Kopf meines Vaters schon existiert haben, als er den Alexanderplatz schriebt," meinte einmal Alfred Döblins Sohn Stefan. Sag ich doch.
Besprochen von Hartwig Tegeler
Alfred Döblin: Berlin-Alexanderplatz
Gelesen von Günter Lamprecht
Patmos Verlag 2009
2 CDs