Vom Speckgürtel zum Armenhaus

Von Renée Willenbring |
Lüneburg. Im Mittelalter mit seinem Salz zu Reichtum gekommen und heute im Speckgürtel Hamburgs gelegen erwarten die Menschen in ihren prunkvollen Bürgerhäusern derzeit auch noch einen Geldsegen aus Brüssel. Denn knapp eine Milliarde Euro hat die EU bis 2013 für den alten Regierungsbezirk Lüneburg bereitgestellt.
Als einzige Region Westdeutschlands halten EU-Statistiker das Gebiet zwischen Wendland und Cuxhaven - Lüneburg eingeschlossen - für besonders rückständig, etwa wie Sizilien oder die Region um Halle in Ostdeutschland. Die betroffenen elf Landkreise finden den Geldsegen gerechtfertigt und einige verweisen auf die jahrzehntelange Benachteiligung durch die ehemalige Zonenrandlage. Ob die Fördermittel aber die strukturschwachen Landkreise unter ihnen auf die Beine helfen werden, bleibt abzuwarten.

Im Herzen der Lüneburger Heide, umgeben von Wäldern und Getreidefeldern, liegt der Lopausee, 20 Kilometer entfernt von Lüneburg im Nordosten Niedersachsens.
Hier in der Gemeinde Amelinghausen kämpft man seit Jahren gegen zurückgehende Touristenzahlen. Mit Hilfe der EU-Millionen sollen die Heidedörfer attraktiver werden. Bis 2013, so die Vision der niedersächsischen Landesregierung, soll die Gegend so viele Touristen locken wie heute die Nordsee.

Gute Chancen für die Ideen von Helmut Völker, den Samtgemeindebürgermeister von 8500 Einwohnern. Um familienfreundlicher zu werden und vom Image des Seniorenurlaubs wegzukommen, möchte Völker gerne eine Wasserrutsche über den See bauen und ein Hotel errichten. Doch bislang fehlt dafür der Investor. Mit den Fördergeldern hofft der Bürgermeister, Gäste auch außerhalb der Sommersaison zu binden.

"Wir wollen errichten in Amelinghausen eine Veranstaltungshalle, die
geeignet ist, um neue Veranstaltungen in Amelinghausen auszurichten. Wir
denken da an kulturelle Veranstaltungen, an Konzerte und Gastspiele, an wirtschaftliche Veranstaltungen, eine Naturparkmesse könnte es sein, wir denken an ein Zahrenhusen-Festival, der Raubritter von Zahrenhusen hier in der Raubkammer, eine alte Geschichte, passt zu Amelinghausen, wir haben dort ein Konzept entwickelt, das Zahrenhusen-Festival in Amelinghausen auszurichten."
Knapp vier Millionen Euro würde die Veranstaltungshalle kosten. Das Heidedorf hofft, dass sein Konzept überzeugend ist, um damit den Höchstsatz der Fördergelder aus Brüssel zu bekommen. Das sind 75 Prozent der Investitionen, also knapp drei Millionen Euro. Den Rest von fast einer Million muss die Samtgemeinde, ein Zusammenschluss von 21 Dörfern, selber aufbringen. Kein Pappenstiel angesichts des geringen Steueraufkommens.

Wie in vielen strukturschwachen Gemeinden muss ein Teil der Summe mit neuen Krediten bezahlt werden. Der Bürgermeister nimmt das in Kauf, weil er meint, dass Gaststätten und Pensionen dann besser ausgelastet wären als bisher. Mit den Fördergeldern könnten endlich die Nachteile ausgeglichen werden, dass die Region jahrzehntelang praktisch ein bewohnter Truppenübungsplatz gewesen sei, wie Völker das nennt. Erst 1994 seien die Briten und Kanadier abgezogen.

"Wir hatten über 40 Jahre Nato-Truppenstatut hier mit dem Soltau-Lüneburg Abkommen, wir konnten uns gar nicht entwickeln und erst nachdem die Freigabe erfolgt ist, konnten wir Natur und Landschaft wieder herstellen, und sind zu einem attraktiven Wohn- und Wirtschaftsstandort geworden. Insofern sag ich für die Samtgemeinde Amelinghausen, die Ziel-Eins Förderung ist total richtig, weil wir hier über Jahre und Jahrzehnte Nachteile gehabt haben."

Die Stadt Uelzen, zwischen Hannover und Hamburg gelegen, ist überregional wegen ihres Hundertwasserbahnhofs bekannt geworden.

Der Künstler Friedensreich Hundertwasser hatte das Bahnhofsgebäude vor sieben Jahren zur Weltausstellung in Hannover mit goldenen Türmen und bunten Säulen verziert. So sei der Uelzener Bahnhof zu einem attraktiven Ausflugsziel nicht nur für Bahnreisende geworden, sagt Eberhard Gottschlich von der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung in Uelzen.

"Wir haben Besuchergruppen ohne Ende, die durch diesen Bahnhof geführt werden, weil sie das toll finden, wie aus so einem historischen Gebäude mit dieser neuen Strategie etwas geworden ist, was über die Region bekannt ist, es hat den Charakter eines neuen Wahrzeichens von Uelzen."

Neben dem Bahnhof bräuchte der Landkreis weitere touristische Attraktionen. Dann, so hofft man, würden die Gäste über Nacht bleiben und mehr Geld in der strukturschwachen Region ausgeben. Industrie gibt es hier kaum, dafür ist Uelzen Deutschlands größter Kartoffellieferant. Weil der Kreis zu einem Drittel mit Bäumen bestanden ist, sind die Verantwortlichen auf die Idee gekommen, hier einen Baumwipfelpfad einzurichten. Das gebe es bislang deutschlandweit nur zweimal, unter anderem in Thüringen in der Nähe von Gotha, wo man jährlich 200 000 Besucher zählt. Der Wirtschaftsförderer erklärt, was ein Baumwipfelpfad ist.

"Es ist eine Holzkonstruktion, die nicht auf ebener Erde läuft, sondern auf Höhe der Baumwipfel in 25 Meter Höhe, dort wird man an bestimmten Bäumen über eine Strecke von 300 bis 500 Meter vorbeigehen und die Ökologie in diesen Baumwipfeln darstellen. Das sind höchst spannende Themen, weil diese Perspektive haben wir als Mensch nicht, wir sind gewohnt unten bei den Wurzeln der Bäume entlangzulaufen, dort oben haben wir dann Attraktionen eingebaut, wo der Gast sich tatsächlich mal dieses Erlebnis gönnen kann."

In Lüneburg, einst Mitglied der Hanse und im Mittelalter Monopollieferant für Salz in ganz Norddeutschland, können sich die Besucher mit einem Pferdewagen durch die historische Altstadt fahren lassen.

Bei ihrer Rundfahrt durch die 70.000-Einwohner Stadt kommen die Touristen auch durch das Wasserviertel, das dringend saniert werden muss. Lüneburg kann sich seit Jahren über steigende Einwohnerzahlen freuen. Mit dem mittelalterlichen Quartier direkt am Flüsschen Ilmenau will die Stadt junge Familien anlocken. Früher hatten sich hier Fischer, Schiffer, Salztonnenböttcher oder Brauer niedergelassen. In einem alten Kaufhaus wurden die Waren gelagert, die auf dem Wasserweg in die Stadt gebracht wurden, erzählt die Stadtentwicklungs-Architektin Brigitte Vorwerk bei einem Rundgang.

"Was Sie hier sehen mit dem alten Kaufhaus, das Gebäude wird in diesem Jahr noch leer werden und die Stadt möchte das an einen Investor veräußern, der das dann zu einem familienfreundlichen Hotel mit ein bisschen Gastronomie umbaut und im Moment ist auch noch an Ausstellungsfläche gedacht, für Kunstausstellungen, Vernissagen, für Lesungen und da würde sich ein Kellergeschoss, was es hier noch gibt, mit anbieten und das wird dann auch eines der ersten Leuchtturmprojekte werden für das Wasserviertel."

Ein anderes Leuchtturmprojekt in Lüneburg soll die Leuphana Universität werden, einzige niedersächsische Hochschule im Fördergebiet, ansässig auf einem ehemaligen Kasernengelände. Mit Hilfe des Strukturförderprogramms der Europäischen Union will die Uni ein Großprojekt zur Forschungs- und Wirtschaftsförderung in der gesamten Region starten.

Als Motor für Innovationen sieht sich die künftige Modelluniversität und hofft, mit einem fachübergreifenden anwendungsorientierten Forschungszentrum und einer sogenannten Professional School, einer Art Weiterbildungszentrum, ihr Image als "Provinzuni" abzulegen. Praktiker vor Ort will man mit dem weltweiten Sach- und Fachverstand verzahnen. Dadurch sollen neue Arbeitsplätze entstehen und neue Branchen in die Region geholt werden. Warum das sinnvoll ist, erklärt der Präsident der Leuphana Universität, Sascha Spoun.

"Denn ein typischer Fall der Situation im Konvergenzgebiet ist ja, das sind Branchen, die teilweise margenschwach sind, das sind Branchen, die teilweise weniger Zukunft am Standort Deutschland haben. Und das ist das Interessante des Großprojekts an der Universität, dass wir damit auch neue Felder erschließen können, die, sagen wir, 2015 folgende, eine tragende wirtschaftliche Substanz bilden."

Die Europäische Union soll dieses Projekt mit immerhin 60 Millionen Euro bezuschussen, wünscht sich der Präsident. Spoun orientiert sich mit seiner Idee an erfolgreichen anderen Universitäten.

"Wenn Sie nach Irland sehen, wenn Sie nach Finnland sehen, aber auch wenn Sie in die Schweiz schauen, dann stellen Sie genau fest, dass in einem Umfeld, was forschungsstark ist, sehr viel Talente angezogen werden und zwar wie ein Staubsauger kommen die. Und wo Talente sind, sammeln sich auch Firmen an, weil sozusagen die knappste Ressource Zugriff auf Talente dann möglich ist."

Der mit 38 Jahren jüngste Präsident einer deutschen Hochschule will für seine Forscherteams internationale Wissenschaftler anwerben. Eine spektakuläre Verpflichtung ist Spoun bereits gelungen. Der weltbekannte New Yorker Architekt Daniel Libeskind wird ab dem Wintersemester zusammen mit Studierenden seine Vision von einem Campus des 21. Jahrhunderts entwickeln.

Eines der spektakulärsten Gebäude dieser Campus-Erweiterung soll ein großer Hörsaal für mehr als 1000 Studierende sein. Libeskind hat das Audimax auffällig mit asymmetrischen Schwingen versehen und plant einen Komplex, der mehr Energie erzeugt als er verbraucht. Kostenpunkt der mehrteiligen Gebäudeerweiterung: 100 Millionen Euro. Sollte das Projekt gebaut werden, würde das sicher über Lüneburg hinaus Furore machen. Das hoffen zumindest die Stadtväter, die sich daran finanziell beteiligen wollen, um dann das Audimax auch als Stadthalle nutzen zu können. Oberbürgermeister Ulrich Mädge:

"Wir haben ja immer früher gesagt, unser Salz, wir sind ja das Salzfass der Hanse gewesen, das war das weiße Gold der Hanse. Und heute sage ich in vielen Reden, und das bewusst auch, diese Universität ist das weiße Gold der Neuzeit. Das müssen wir heben aus den Köpfen."

Aber auch kritische Stimmen mehren sich. Die Studenten sähen lieber das Lehrpersonal aufgestockt, und die Grünen beklagen die schlechte Infrastruktur für Schulen im Landkreis. Die Fraktionsvorsitzende des Kreistages, Miriam Staudte, bedauert, dass die Brüssel-Gelder hier nicht eingesetzt werden dürfen:

"Wenn ich frei über diese 100 Millionen, die da verbaut werden sollen, entscheiden könnte, würde ich sie am liebsten nehmen und eigentlich erst mal unsere Schulen auf Vordermann bringen. Das sind also größtenteils Bauten aus den 70er Jahren und sehen auch entsprechend aus. Und im Moment haben wir einfach nicht das Geld, sie wirklich general zu überholen oder neu zu bauen. Die EU, Hannover sieht das leider nicht vor, dass wir diese EU-Mittel nehmen können, um unsere Schulen zu sanieren, aber notwendig wäre es eigentlich."

Das Lüneburger Rathaus mit seiner Backsteingotik aus dem 13. Jahrhundert und seinem mittäglichen Glockenspiel zieht jährlich Zehntausende von Touristen an.

Die zum Teil aufwendig renovierten Kaufmannshäuser vermitteln noch heute etwas vom Reichtum vergangener Zeiten. So reich Lüneburg auch scheint, so arm wirkt das Umland auf den Besucher.

Die Region gilt als der ewige Verlierer und stand jahrzehntelang im wirtschaftlichen Abseits. Erst Zonenrandgebiet, dann ehemaliges Zonenrandgebiet. Vor der Wiedervereinigung schreckte die Grenze Investoren ab. Seither zieht es Unternehmer eher in die Nachbarländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt jenseits der ehemaligen Grenze wegen der günstigen Förderungen von der EU.

Was das für den östlichsten und kleinsten Landkreis Lüchow-Dannenberg heißt, erklärt Landrat Jürgen Schulz:

"Wir liegen nach wie vor sehr abseitig. Das haben wir 40 Jahre zu DDR-Zeiten schon beklagen müssen, und es ist heute eigentlich die gleiche Situation. Wir liegen generell mitten wirklich in Norddeutschland, exakt in der Mitte, aber es kommt niemand her und es kommt auch keiner von hier so recht wieder in die Welt, die Infrastruktur ist schlecht, die nächsten Autobahnen sind ja mindesten eine Stunde Fahrzeit entfernt, Bahnverbindungen gibt es gar keine, und letztlich werden Ansiedlungen weitestgehend über solche Kriterien entschieden."

Doch jetzt hat Brüssel auch die Region zwischen Cuxhaven und Gorleben entdeckt. Von diesem Jahr an können die elf Landkreise gut eine Milliarde Euro Fördergeld aus der Europäischen Union bekommen. Zum ersten Mal ist damit eine westdeutsche Region in die höchste Förderstufe der EU gerutscht und zur sogenannten "Ziel-Eins" oder Konvergenz-Region geworden. Damit steht für Brüssel der Speckgürtel um Hamburg statistisch gesehen auf einer Stufe mit den europäischen Armenhäusern in Rumänien und Polen oder den ostdeutschen Bundesländern, was viele für ein Unding halten. Aber nach EU-Recht steht der Region die Förderung zu.

Jetzt sind wir auch mal dran, reibt sich der Lüneburger Oberbürgermeister die Hände.

"Wir nehmen die Chance, die sich uns bietet, wir haben ja nicht manipuliert irgendwo, wie es auch andere Städte im Osten 15 Jahre genommen haben wie Leipzig, Dresden. Wenn Sie sehen, was da an Fördergeldern, die wir ja mitfinanzieren bis heute, 15 Jahre geflossen sind, nehmen wir die Chance wahr, aber wir nehmen sie wirtschaftlich vernünftig wahr, nicht nur, weil es plötzlich Geld gibt, wir verpulvern's nicht und stärken unsere Stärken und das ist unsere ureigenste Aufgabe. Ich müsste abgewählt werden, wenn ich das nicht machen würde."

Dass die Lüneburger überhaupt in das Förderprogramm für benachteiligte europäische Regionen aufgenommen worden sind, verdanken sie den EU-Regularien. Zum einen hatte die Region das Glück, dass nur die alten 15 EU-Staaten in die Berechnung einbezogen wurden und nicht alle 27 EU-Mitglieder, die heute der Union angehören. Hinzu kam, dass bei der Berechnung der Wirtschaftskraft im nord-östlichen Niedersachsen Tausende von Pendlern nicht berücksichtigt wurden, die täglich die Region verlassen und nach Hamburg, Bremen, Wolfsburg oder Hannover zur Arbeit fahren. Die zahlen zwar an ihren Wohnorten in Uelzen, Harburg oder Verden ihre Steuern, ihr Arbeitseinkommen wird aber EU-technisch Städten wie Hamburg oder Bremen zugeschlagen, wo sie ihr Geld verdienen. Ulrich Mädge:

"Das Ganze ist ein EU-Statistikprogramm, kann man fast sagen, eben das Bruttoinlandsprodukt dieses Raumes wird gerechnet ohne die Auspendler nach Hamburg und Bremen, wir haben ja über 10 000 Auspendler und wenn man das rausrechnet, sind wir in diesem Referenzjahr unter 75 Prozent gekommen."

Ob Erlebnispark oder Veranstaltungshalle, alle Projekte stehen in Konkurrenz zueinander, wenn es darum geht, in die höchste Förderstufe zu kommen. Im Herbst wird das Land Niedersachsen die ersten Anträge bewilligen. In den nächsten sieben Jahren wird sich dann zeigen, ob diese Leuchtturmprojekte das westdeutsche Armenhaus voranbringen.