Vom Suchen und Finden

Endstation Fundbüro

Brief aus einer Flaschenpost
Einen persönlichen Brief zu verlieren, können viele Menschen schwerer ertragen als den Verlust von Handy, Portemonnaie und Ausweis. © dpa / picture alliance / Oliver Berg
Von Carolin Pirich |
Unsere Reporterin Carolin Pirich hat ihr Notizbuch verloren. Bei ihrer Suche danach trifft sie auf Menschen und ihre Geschichten vom Suchen und Finden.
Meine Handtasche: Brillenetui, Spielzeugauto meines Sohnes... Da, der Schlüssel! Uff.
Immer wieder: Wenn ich in den Tiefen meiner Tasche nach ihm grabe, überlege ich, was wäre, wenn ich ihn nicht finde, wo der Zettel mit den Nummern liegt, die man anrufen sollte, wenn der Schlüssel weg ist.
Nachbarn benachrichtigen. Schlösser tauschen. Alle Schlösser austauschen! Im Haus, in dem wir leben, sind es 21 Wohnungen.

18 Stunden im Jahr gehen fürs Suchen drauf

Dann klimpert es doch. Wie viele Minuten Such- und Lebenszeit würde ich mir sparen, würde ich den Schlüssel immer in dieselbe kleine Innentasche stecken: Sagen wir, drei Mal am Tag suchen, pro Suche eine Minute. Das sind drei Minuten am Tag, das sind gut 18 Stunden im Jahr, das sind knapp vier Tage in fünf Jahren... Ein verlängertes Wochenende.
Der Schlüssel ist da. Ich wühle weiter. Stülpe die Handtasche um. Spielzeugauto, Pflastermäppchen, Geldbeutel, Dose mit Pfefferminzpastillen, Papiertaschentücher, Lippenstift, Babyrassel, Mikrophon, eine zusammen gerollte Ausgaben des SPIEGEL, zwei Kugelschreiber.
Es ist nicht da.
Mein Notizbuch.
Weg.
Blaues Wildleder, ziemlich abgegrabbelt, nichts von Wert. Nichts von finanziellem Wert, jedenfalls. Und an das, woran ich mich erinnern will, erinnere ich mich auch so.
Obwohl.
Vielleicht weiß ich noch gar nicht, ob die Notizen wertvoll sind?
Wofür ich sie noch brauchen kann.
Gedankenfetzen:
Welches gute Restaurant ich mir aufgeschrieben hatte, für irgendwann, Tipp eines Kollegen.
Was ich meiner Großmutter zum nächsten Geburtstag schenken könnte.
Ideen für einen nächsten Artikel!
Ein schöner Satz einer italienischen Freundin - den kriege ich so nie wieder zusammen.
Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, ich hätte mein Leben liegen gelassen, so wie Martin Walser, der sein Notizbuch auf der Fahrt an den Bodensee im Zug liegen gelassen hat. Aber doch...

Ein ganzer Schwung Notizbücher, aber meins ist nicht dabei

Ich schnappe meine Handtasche, werfe den Schlüssel hinein und laufe zurück ins Café in Berlin-Mitte, in dem ich gesessen habe.
Ich frage den Mann hinter der Bar. Ist mein Notizbuch da?
Es ist blau, Wildleder, mit einem Bändel drum, so groß etwa.
Gast: Hallo, ich hätt gern ein Croissant und einen kleinen Americano...
Er nickt, will nachschauen. Verschwindet in der Küche.
Gast: Can I have a latte please, a sclice of cake?
Minuten vergehen. Viel los im Café. Ein Café, mittlerweile berühmt durch zahlreiche Berichte über die sogenannte Digitale Bohème (das Oberholz): Typen mit Bart, Frauen, die die Haare am Oberkopf zusammengeknotet haben, hippe Brillen, Kaffee-Spezialitäten neben der Tastatur - und am Tischrand, meistens rechts in der oberen Ecke: Notizbücher. Schwarzes Leder, mit Gummiband, dickeres Papier. Meistens liegt es einfach nur da, quasi unbenutzt - aber es liegt da. Analoges Beweisstück, dass das Handgeschriebene noch irgendwas bedeuten muss. Jemand hat mal gesagt, dass man klarer denkt, wenn man mit der Hand schreibt.
Eine Frau kommt mit einer Plastikbox zurück: "Das ist alles, was wir haben."
Immerhin ein ganzer Schwung Notizbücher.
Alle Schwarz. Meins - nicht dabei. Die Frau, sie schaut mich kurz an. Dann verschwindet sie wieder in der Küche.

Gibt es ein Tagebuchgeheimnis?

Caffettiero: "Willst du eins haben?"
In ein fremdes Notizbuch schauen? Diesmal noch gelingt es mir, meine Neugier zu bezwingen.
Es gibt doch so etwas wie ein Tagebuchgeheimnis? Es müsste jedenfalls unter den Schutz der Privatsphäre fallen.
Wer mit dem Stift in ein Buch schreibt, dem kann man unterstellen, dass er das für sich und nicht für die Öffentlichkeit macht. Sonst würde er auf Facebook posten.
Es sei denn, man ist ein berühmter Schriftsteller wie Martin Walser, der nach und nach seine gesamten Tagebücher veröffentlicht hat - und der Verlag wohl auch deshalb auf sein verlorenes Notizbuch 3000 Euro Finderlohn ausgeschrieben hatte.
Oder man ist Wolfgang Herrndorf, der Autor von "Tschick". Er war an Krebs erkrankt, hat eine wunderbare Roadnovel geschrieben, dann noch einen Wüstenroman - und sich schließlich am Ufer der Spree erschossen. Anschließend hat der Verlag seine Notizen veröffentlicht, weil die Welt, die Herrndorf hinterließ, noch viel mehr von ihm lesen wollte.
In Martin Walsers Notizbuch, das er im Zug liegen gelassen hatte, standen weder Nummer noch Namen darin. In meinem schon. Walser hat dann, ganz klassisch, zunächst beim Zentralen Fundbüro der Deutschen Bahn in Wuppertal eine Suchanzeige gestellt - "Verlust-Gruppe Bücher, Bilder, Kunstgegenstände".
Da wäre ich fast nicht drauf gekommen, Fundbüro!
Ziemlich altmodisch in Zeiten von digitalen Suchmaschinen, die alles von einem zu finden scheinen.
Ich fahre sofort mit der U-Bahn zum Zentralen Fundbüro Berlin.

Welcher Verlust wiegt am schwersten?

Die Wolken am Himmel hängen wie eine alte nasse Decke über dem enormen Gebäude, in dem das Zentrale Fundbüro Berlin untergebracht ist und unterschiedliche Messen allerhand unterschiedliche Leute anziehen: Modedesigner, Personaler, Sportler, Musiker. Es gehörte zum Tempelhofer Flughafen und ist mit 300.000 Quadratmetern Fläche noch immer eines der größten Gebäude weltweit. In seiner während der NS-Zeit entstanden Architektur wirkt es bis heute abweisend.
Endloser Gang zwischen Pfeilern, endlos und leer. Aus der Glastür tritt mir eine blonde Frau im schwarzen Mantel entgegen, zündet eine Zigarette an.
"Die Geschichte beginnt, als wir in Mannheim ein Konzert der Söhne Mannheims besuchen wollten. Dann haben wir noch zusammen ein Bier getrunken. Und sind dann später zurück ins Hotel, voller Glücksgefühle, erschöpft eingeschlafen."
Sie bläst den Rauch aus, stellt sich als Bettina Maria vor. Man merkt ihr an, wie oft sie im Kopf die Geschichte ihres Verlusts nocheinmal durchgeht.
"Am nächsten Morgen ausgecheckt: bezahlen, habe ich mein Portemonnaie gesucht - das war ein Schreck. Grundsätzlich suche ich oft Dinge, das kennt jeder: Geldböse, Handy, Brille. Dann habe ich gemerkt, irgendwas stimmt nicht."
Das Portemonnaie - nach Schlüsselbund und Handy der am häufigsten verlorene Gegenstand. Klar macht es Ärger, das zu verlieren, Ärger und Kosten: Bargeld weg, Kreditkarten, Führerschein, Ausweise, alles weg. Aber Bettina Maria hat mit ihm auch noch etwas anderes verloren - eine Erinnerung an ihren Sohn:
"Persönliche Dinge auch, so kleine Erinnerungsschreiben hebe ich mir auf. Wenn mir jemand einen Zettel hinterlassen hat, der mir gut gefallen hat, das wandert dann ins Portemonnaie. Da waren kleine Zettel von meinem Sohn drin, die er mir mal geschrieben hat. Darüber freue ich mich am meisten, dass ich es wieder hab. Das ist wieder da!"

Erinnerung an den toten Sohn

Bettina Maria ist Mitte, Ende 40. Sie wühlt in ihrer Handtasche, schaut hoch, lächelt.
"Ich suche auch nach Feuerzeugen."
Sie kramt eine neue Zigarette heraus. Kramt das wieder gefundene Portemonnaie hervor. Es ist wahrscheinlich in der Straßenbahn geklaut worden, sagt sie. In ihrer Handtasche gibt es zwar dieses Durcheinander, aber das Portemonnaie liegt meistens ganz weit unten. Jetzt klebt eine Nummer drauf, die Nummer der Behörde: 1547540. Sie faltet den Brief auf, den ihr das Fundbüro Mannheim geschrieben hat. Finder: ein Sebastian...
"Sebastian ... Hansi? Kann man gar nicht lesen. Danke, Sebastian."
Bettina Maria schaut nicht nach, ob Ausweise oder Bankkarten fehlen. Nur nach den Zetteln, die ihr Sohn ihr geschrieben hat, schaut sie sofort. Sie öffnet den Geldbeutel, ledern, mit Druckknopf.
"Das ist schon sehr besonders, weil mein Sohn lebt nicht mehr. Der ist mit 20 Jahren ganz plötzlich verstorben. Der hat seit seinem 13. Lebensjahr epileptische Anfälle gehabt, man hat nie herausgefunden, warum. Und in einer Nacht hat er wohl einen heftigen Krampf gehabt. Das war ein Schock.
Und damals habe ich einem Kontaktlinseninstitut gearbeitet, da war er zehn, elf Jahre alt. Und da hatten wir so Kundenkarten, die wir den Kunden geben konnten mit unseren Kontaktdaten. Und da habe ich das bekommen.
Name: Mama. Linsentyp: super.
Das Geld is' raus. Was soll's."

Im Fundbüro: Taschen, Koffer, Jacken, Fahrräder

"Hier haben wir die ganzen Jacken aufgehängt. Und hier haben wir in monatlicher Reihenfolge ein halbes Jahr Taschen."
Die meisten Fundstücke lagern in einem großen Raum. Beeindruckend viele Fahrräder, ordentlich aufgehängt. Dann Rucksäcke, Taschen, volle Tüten, Koffer, ein Kinderrucksack mit Teddy. Manfred Schneider, ein großer Mann Mitte 40 mit sanftem Gesichtsausdruck, der gut zuhören kann, führt durch das Herz des Fundbüros.
"Das BGB gibt vor: Ein halbes Jahr muss aufgehoben werden, dann geht es ans Eigentum des Finders über... Zehn Prozent der Sachen gehen an die Finder als Eigentümer zurück."
Etwa 15.000 Gegenstände lagern hier, schätzt Manfred Schneider. Kistenweise Handys, auch Regenschirme, Krücken, Hüte, Jacken, zwei Regalreihen Handschuhe, Mützen, Broschen, Ringe. Ein Tresor mit weiterem Schmuck, iPads, Geld. Regalabteilungen mit Fundstücken aus Kaufhäusern, Museen, Hotels. Aus der Berliner Philharmonie (zum Beispiel) kommen viele Schals, edle Stoffe, dezente Muster.
"Jede Fundsache ist anders zu behandeln. Ein Fahrrad ist anders zu behandeln als eine Geldbörse und ein Spielzeug. Das meiste sind Ausweise, Börsen, Handys, Schlüssel und Bekleidungsgegenstände."
Schneider leitet das Zentrale Fundbüro seit 13 Jahren. Seine Mitarbeiter haben ihre Schreibtische an einer Fensterreihe unter Zimmerpalmen. Zwischen Fahrrädern und Rollkoffern aus aller Welt sortieren sie Fundstücke, pflegen Informationen in die Datenbank ein und stellen sie anschließend ins Internet, versuchen, Dinge wieder zu ihren Menschen zu bringen. 14 Mitarbeiter arbeiten im Fundbüro, jedes Jahr geht mehr durch ihre Hände.
"Die gesamte Menge von Fundsachen hat deutlich zugenommen in fünf Jahren. Wir sind jetzt bei 30.000 Fundeingängen pro Jahr. Bis 2010 war es mehr oder weniger konstant, so 25.000 Fundeingänge im Jahr. Jetzt ist das deutlich angestiegen. Wir merken, dass wir mehr ins Ausland versenden müssen von Treffern."
Manfred Schneider will nicht spekulieren. Er will nicht bewerten, er darf es auch gar nicht. Es fällt ihm sogar schwer, darüber zu urteilen, was das interessanteste Ding gewesen ist, das mal hier abgegeben wurde.
"Richtig auffällig ist nur: Anfang des Jahres werden die Sammelfunde von Museen, Kinos, von privaten Einrichtungen, die machen offensichtlich einen Jahresschnitt. Aber im Jahr gibt es keine größeren Schwankungen."

Notizbücher gelten als Bagatellfund

Gibt es einen Typ des ehrlichen Finders?
"Jeder, der irgendetwas entdeckt, der halbwegs ehrlich ist, es abzugeben, alles andere wäre auch Unterschlagung, Betrug, bis zu drei Jahren haftbar, wenn man dabei erwischt würde, aber ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, das sind auch LKA-Ermittlungen, nicht meine. Jeder der halbwegs ehrlich ist, gibt es auch ab."
Und werden auch Notizbücher abgegeben?
"Vereinzelt. So richtig viele nicht. Das gilt wohl auch als Bagatellfund und muss auch nicht angezeigt oder abgegeben werden. Vielleicht ist das den meisten dann zu viel Aufwand und werfen es dann in den Müll."
Manfred Schneider schaut mich mitfühlend an. Ungewohnter Gesichtsausdruck - in einer Behörde.
"Das gibt wohl auch die Aufgabe so her. Es ist eine Verwaltungsaufgabe, bei der man nicht etwas versagen muss, sondern man kann Leute glücklich machen."
Wenn er mich nicht mit meinem Notizbuch glücklich machen kann - vielleicht mit der Geschichte eines aufregenden Fundstücks?
"So richtig aufregend kriegen wir das hier leider nicht mit."
Manchmal kann man an den Fundstücken ablesen, was sich in der Stadt verändert: Zum Beispiel will mittlerweile die halbe Welt einen Koffer in Berlin haben. Es sind ausschließlich Rollkoffer.
Manfred Schneider entschuldigt sich, lächelt. Er muss weiterarbeiten, sie kommen sonst nicht hinterher mit all den Sachen.

Das ganze Leben auf einem USB-Stick

Vielleicht ist es auch so, dass die Menschen unachtsam werden, weil man schnell ersetzen kann, was man einmal hatte. Ein Klick im Netz - und der Paket-Turm, den der Bote täglich schleppt, wird halt noch ein bisschen höher.
Oder vielleicht verlieren Dinge an Wert, weil man immer mehr das, was man hat, virtualisieren kann. Dokumente und Erinnerungen, Bücher und Musik, Spiele und Bilder, Arbeitsunterlagen und Korrespondenzen speichert man in Bits und Bites auf einem winzigen Gegenstand und trägt sie mit sich herum. Und verliert das Ganze dann.
Wie Helen, die in der Schlange vor einem Schalter steht, als ich aus der Lagerhalle komme. Sie macht die Tasche auf und zu. Vieles, was sie hat, passt auf drei USB-Sticks. Aber diese Sticks sind: weg.
"Mein Leben quasi. Ich hab alles verloren, ich habe kein Backup-Copy. Deshalb bin ich ein bisschen verloren gerade. Alles Rechnungslegungen, ich bin selbständig als Tanz- und Fitnesstrainerin. Bewerbungsunterlagen, Fotos von Reisen. Alles weg. Ein Stick mit meiner Musiksammlung, dann ein goldener mit privaten Dingen und dann ein silberner, mein Arbeitsstick."
Helen steht in Leopardenleggins und Pelzjacke vor Schalter 3. Hier kann man fragen nach Ausweisen, Geldbeuteln, Datenträgern.

Die Hoffnung liegt an Schalter 2

Für Schlüssel, Gehhilfen, Musikinstrumente und Waffen liegt die Hoffnung an Schalter 2.
Schalter 1 für Spielzeuge, Handys, Brillen und Boote.
"Weil ich so oft umgezogen bin in den letzten Jahren, da hat man keinen fixen Arbeitsrechner. Da trage ich meine persönlichen Sachen immer mit mir. Das hat sich jetzt gerächt."
Helen kommt dran. Spricht mit einer Frau mit sanftem Gesicht. Sie verschwindet, kommt nach einem langen Moment wieder. Als Helen sich zum Gehen wendet, sieht sie noch ein bisschen blasser aus als vorher.
"Ich hatte leider kein Glück. Die letzten Monate sind verloren. Das hier im Fundbüro war mein letzter Versuch. Jetzt bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass es nicht zu mir zurückkommt."
Helen geht durch die Glastür, man kann sich vorstellen, dass sie unter ihrer Pelzjacke ein bisschen die Schultern hängen lässt. Wie ich, innerlich: Mein Notizbuch.

"Wer sucht, der findet?"

Vielleicht aber ist Suchen sogar schöner als Finden. Denn wer etwas sucht, der hat Hoffnung. Der kann sich etwas ausmalen. Wer sucht, der findet, heißt ein deutsches Sprichwort. Und das Gefundene kann ja auch anders sein, als das Gesuchte. Schöner noch. Besser, voller, farbenreicher.
Die nächste Station auf meiner Suche nach meinem verlorenen Notizbuch führt mich ins Yogastudio.
Ich war da kürzlich auf der Suche nach einem entspannten Rücken. Hatte ich da auch mein Notizbuch dabei?
"Man geht zum Yoga, weil man sich selbst finden will."
Leute, die Yoga machen, suchen oft nicht nach einem Gegenstand, sondern - ganz im Gegenteil - versuchen, sich von Gegenständlichem zu lösen.
"Es sind ja alles Yogis bei uns, vielleicht sind die bewusster mit ihren Sachen und vielleicht nicht so konfus. Hoffentlich."
Sara hat ein junges, offenes Gesicht. Sie sieht so zufrieden aus, dass ich mich am liebsten neben sie setzen und von ihrem Optimismus etwas abbekommen möchte. Sie holt eine kleine Plastikkiste mit den verlorenen Sachen. Setzt sich auf einen Sessel vor der Rezeption des Yogastudios, zieht ein Bein unter sich.
"Wir haben einiges in der Kiste: Sonnenbrille, Schmuck, weil viele Frauen bei uns sind, mehr als Männer. Deo, Handy, Kamm, eine EC-Karte. Oh, ein Wedding Ring. Found on... after 20:15 class. Oh, da sollten wir einen Aufruf starten."
Sie kramt weiter: Noch ein Ring, ein Schutzamulett mit der Jungfrau Maria. Bevor Sara das erste Mal Yoga macht, hat sie sie bei einem Verlag im Marketing gearbeitet. Sie fand, das passte nicht zu ihr, und schon eine Weile war sie auf der Suche nach etwas anderem. Als sie zum ersten Mal ins Yogastudio ging, das war in München - kehrte sie seitdem jeden Tag dahin zurück. Bis sie schließlich ihre Arbeit gekündigt hat, um Yogalehrerin zu werden. Das war vor 2 Jahren.
"Ich hab' mich wahrscheinlich noch nicht so gefunden, sonst würde ich das alles ja nicht machen."
Sara macht eine Pause. Schaut wieder in die Kiste vor ihr. Schaut dann mich an.
"Das letzte was ich gefunden habe, war ein altes Handtuch, das ich dann weggeschmissen habe, weil es so grau war. Notizbuch haben wir leider nicht."

Man soll nicht an Dingen hängen, sagt die Yogalehrerin

In meinem Notizbuch hatte ich sogar meinen Namen drin und meine Handynummer. Der erste Eintrag war von 2004. Gedanken aus 12 Jahren! Es war nicht mein tägliches Notizbuch, kein Buch für meine Arbeit. Ich trenne offenbar zwischen Gebrauchsgedanken und Herzensnotizen, fällt mir auf. In kleiner Schrift, sorgfältig. Irgendwie habe ich mit dem Gedanken geschrieben: Das sind kleine Juwelen, die ich sammle für eine Zeit, in der ich nicht mehr sammeln kann, nur noch erinnern.
"Wenn es wahre Yogis sind, dann geben sie es zurück."
Sara findet, man solle sowieso nicht so sehr Dingen anhaften. Aber dass die Sachen zu einem zurückkommen, das passiert auch immer wieder. Mir selbst ist schon zwei Mal meine Handtasche abhanden gekommen - und jedes Mal kam sie zu mir zurück. Einmal hat sie ein Müllmann in einem öffentlichen Mülleimer wiedergefunden und mich angerufen. Einmal war sie mir vom Fahrrad gefallen, als eine Polizeistreife um die Ecke bog. Die hat sie mir wiedergebracht.
Da bekam der "ehrliche Finder" ein Gesicht.
Wie auch das einer Kollegin: Sie hat mal erheblichen Aufwand betrieben, um den Verlierer eines Handys ausfindig zu machen. Sie hat sich vorgestellt, wie sehr sie sich freuen würde, wenn sie einen Anruf bekäme, wenn ihr Telefon weg wäre - es ist ja nicht nur ein Telefon, sondern Adressbuch, Kalender, Uhr. Mindestens. Sie hat Nummern angerufen, auf Facebook gepostet. Immer wieder suchen Finder Verlierer über Soziale Netzwerke: Fundbüro Face-to-face.
Einmal hat der Schauspieler Tom Hanks einen Ausweis gefunden - und getwittert:
"Lauren! Ich habe deinen Studentenausweis im Park gefunden. Wenn du ihn noch brauchst, wird sich mein Büro mit dir in Verbindung setzen. Hanx."

Lost-and-Found im Hostel

Trotzdem: das Fundbüro scheint immer noch die erste Anlaufstelle zu sein für Dinge, die verloren gehen. Dass sich in Berlin die Zahl an Fundsachen vervielfacht hat, das mag mit den Touristen zusammenhängen. Immer mehr Besucher kommen nach Berlin. Im vergangenen Jahr haben mehr als 30 Millionen Reisende in Berlin übernachtet. Beinahe jeder zweite kommt aus dem Ausland.
Was lassen die liegen? Und wie kommen die Dinge zu ihnen zurück, wenn sie wieder in Australien, den USA, in Italien sind? Höchstwahrscheinlich werden die dort mein Notizbuch nicht haben, aber jetzt bin ich neugierig: Was befindet sich im Lost-and-Found-Schrank des größten Hostels von Berlin?
"Was ganz viel hier gelassen wird sind Kostüme. Weil die Leute aus England, die ihren Junggesellenabschied feiern, dann zieht der, der heiratet, was ganz Verrücktes an. So rennen die durch die Stadt. Und lassen dann die Sachen liegen. Das wäre toll, wen ich ein Lager hätte, dann könnte man gut Halloween feiern."
Josefine, die sich mit einem kräftigen Händedruck und "Josy" vorstellt, trägt die Haare tiefschwarz, einen Ring in der Nase und einen in der Lippe und ein großes Tattoo auf dem Unterarm.
"Es wäre nicht infragegekommen, so eine Rose am Hals. Ich hab' im Ritz Carlton gearbeitet. Man bekommt Trainings, wie man richtig bitte und danke sagt, so nenne ich das immer, das angenehme Leben miteinander. Aber die Gäste erwarten auch viel mehr. Es hat Spaß gemacht, aber ist auch sehr anstrengend. Es passt ihnen etwas nicht. Dann all die Stars. Nach sieben Jahren dachte ich, ich muss mal etwas anders sehen. Ich bin dann nach Australien und hab diese Hostels kennengelernt und gemerkt: das ist genau mein Ding."
Vor zwei Jahren hat Josy gewechselt. Vom Ritz Carlton ins Generator Hostel. Sie mag den lockeren Umgang, die vielen Leute aus den vielen Ländern. Josy leitet das Housekeeping: teilt das Raumpersonal ein, sorgt für schön eingerichtete Zimmer, saubere Handtücher - und hat den Überblick über alle Gegenstände, auch über die vergessenen.

Was nach sechs Monaten nicht abgeholt wurde, wird versteigert

Josy führt in den Keller. Eine dunkle Treppe runter, Tür auf. Der Raum hängt voller weißer Wäsche: Betttücher, Kissenbezüge. In einer Ecke des Raums die Regale mit den verlorenen Dingen aus den letzten sechs Monaten.
"Ich hab leider nicht so viel Platz. Und ich kann nicht mehr sammeln als sechs Monate."
Das Partner Hostel sammelt die Fundsachen - und wenn nach Ablauf von sechs Monaten niemand danach fragt, machen sie eine Party und versteigern die Sachen. Den Erlös geben sie Obdachlosen.
Kürzlich hat Josy in einem Zimmer einen quasi antik aussehenden Tennisschläger gefunden. Retroschick.
"Das ist doch irre. Ich hab dann gleich Fotos davon gemacht, mit mir, für Instagram. Das kostet doch bestimmt viel Geld."
Auch im Ritz Carlton haben die Reisenden viel vergessen.
"Da sind die Sachen noch viel wertvoller. Nach einer bestimmten Zeit bekommen wir die Sachen zurück und konnten uns das dann aufteilen zwischen den Hausdamen und den Zimmermädchen. Souvenirs, Bücher. Alles, was neu war, das fand ich toll. Viel Schmuck, aber das ist nie bei uns gelandet, das kommt dann in den Safe, so was sehen wir nicht."
Josy zieht einen blauen Rucksack hervor. Das passiert oft, sagt sie: die Leute vergessen einfach einen Teil ihres Gepäcks.
"Das sieht aus wie ein Schlafsack, Kosmetiksachen. Das ist ja voll spannend hier drin! Ein Buch. Wie kann man so etwas vergessen? Ich verstehe es nicht. - Haste damit jetzt gerechnet?"
Sie zieht das Buch aus dem Rucksack: Der Praktische Gartenratgeber von Gärtner Pötschke.
"Da fragt man sich echt, was passiert ist. Ich würde weinen, wenn ich was verliere. Vor allem, wenn man ins Ausland geht... Ich passe auf wie ein Schießhund. Wenn ich so etwas vergesse, oder mir genommen wird. Ich passe halt echt auf."

Die Geschichte hinter den Dingen

Josefine öffnet noch eine Schublade. Irgendwie - all diese Dinge, die in ein anderes Leben gehören, sind anziehend. Warum hat jemand seine Reisetasche liegen gelassen? Hat er oder sie sich verliebt? Eine Liebe, die einen trifft wie ein Blitz, also schnell hinterher, bevor sie zur Tür hinaus geht, für immer verschwindet... Solche Geschichten könnten hinter den Dingen stecken.
"Die Leute wissen auch nicht, dass sie es vergessen haben. Partyhostel. Und ich glaube nicht, dass er weiß, dass er alles hier hat. Wir dürfen die Leute ja nicht kontaktieren. Rechtliches Ding."
Kann ja sein, dass jemand die Mail liest, der von dem Aufenthalt im Hostel, der Reise gar nichts wissen darf, erzählt Josy.
In der Schublade haben sich Kameras, Uhren, Smartphones, alte Handys gesammelt. Und da: ein Notizbuch. Ich zögere noch. Josy blättert es auf. Blättert durch. Will es weglegen. Aber jetzt nehme ich es in die Hand. Der Besitzer kommt aus Venezuela. José Edoardo.
"Notizbuch finde ich auch ganz tragisch. Ich schreibe zwar kein Tagebuch, aber das, was ich erlebt habe. Und wenn das dann weg ist!"
José Edoardo aus Venezuela hat Adressen und Telefonnummern aufgeschrieben. Französische, spanische, italienische Handynummern. Er hat sich aufgeschrieben, wo er war. Paris Louvre, Rom Vatikan. Und eine Liste der Orte, an denen er in Berlin war oder wo er hin wollte: Jüdisches Museum, Potsdamer Platz, Pariser Platz, Bundestag.

Das Notizbuch taucht nicht wieder auf

Das Buch liegt schon seit über einem Jahr in der Schublade. Niemand hat sich gemeldet. Dass die Besitzer nicht nach Handys, Uhren, Portemonnaies, Regenschirmen, Rucksäcken fragen - sie sind finanziell zumindest ersetzbar.
Im Grunde, zeigt das, braucht man all die Dinge nicht. Was würde man tun, kämen alle Haargummis, Regenschirme, Einkaufszettel, Knöpfe, Handschuhe zu einem zurück? Eine Heimsuchung!
Josy schließt die Tür ab, sie begleitet mich zur Straße.
Mein Notizbuch vermisse ich immer noch. Sein abgegriffenes Leder, seinen Geruch. Manchmal versuche ich mich, genau an die Sätze zu erinnern, die darin gestanden haben. Sie waren Freunde, die von etwas erzählen, das so nicht mehr zurückkommt.
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