Vom Teufelsmoor mitten in die Moderne

Von Rainer Berthold Schossig |
Lange wurde Paula Modersohn-Becker als betuliche Worpsweder Arme-Leute-Malerin missverstanden. Heute wird sie als Wegbereiterin der Moderne zu den bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Zeit gerechnet. Obwohl Modersohn-Becker nur 31 Jahre alt wurde, hinterließ sie bei ihrem Tod vor 100 Jahren ein beeindruckendes malerisches und zeichnerisches Werk voller Poesie und experimenteller Kraft, das gerade in diesem Herbst und Winter in einer Reihe bedeutender Ausstellungen neu präsentiert und gewürdigt wird.
"Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes, braunes Moor, köstliches Braun. Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland."

So schwärmte die junge Künstlerin Paula Becker im Sommer 1897 in ihrem Tagebuch. Sie war damals 21 Jahre, und Worpswede hinterließ bei ihr einen so tiefen Eindruck, dass sie hier Malen und Zeichnen erlernen wollte. So wurde sie zur Stimmungs-Malerin brauner Sumpf-, Moor- und Heidelandschaft:

Doch das Teufelsmoor war nur der Anfang ihres künstlerischen Weges; der sollte sie mitten in die Moderne, nach Paris führen: Heute gilt sie als die Wegbereiterin deutscher Avantgardekunst. - 1876 in Dresden geboren, wuchs Paula Becker in Bremen auf. Im nahen Worpswede lernte sie Rainer Maria Rilke kennen. Die Malerin inspirierte den Poeten zu einem seiner innigsten Worpsweder Gedichte:

"Die roten Rosen waren nie so rot
als an dem Abend, der umregnet war.
Ich dachte lange an dein sanftes Haar...
Die roten Rosen waren nie so rot."

Paula Beckers erste Ausstellung in der Bremer Kunsthalle fällt bei der Kritik durch; enttäuscht fährt sie in der Sylvesternacht 1899 nach Paris. Der Louvre beeindruckt sie, die Bilder von Cézanne, Gaugin und Matisse treffen die "wie ein Gewitter". Noch drei Mal wird sie in die "Hauptstadt der Malerei" reisen - und immer wieder ans Teufelsmoor zurückkehren; ihr künstlerischer Weg: ein Spagat zwischen Worpswede und Paris.

Am Beginn des neuen Jahrhunderts steht die legendäre Worpsweder Dreierhochzeit: Die Bildhauerin Clara Westhoff heiratet Rainer Maria Rilke, Paula Becker verbindet sich mit Otto Modersohn und der Jugendstilkünstler Heinrich Vogeler mit Martha Schröder. Als Witwe erinnerte diese sich 50 Jahre später in einer historischen Aufnahme:

"Im Frühling 1901 heirateten wir drei Paare, Modersohns, Rilkes und wir. Und begannen so den Sommer unseres neuen Lebens."

In der Stille Worpswedes entstehen nun jene Bilder, die Paula Modersohn-Becker posthum populär machten: Wege zwischen hellen Birken und dunklen Bauernkaten, Lehmkuhlen und Torfgräben, mit hohen Himmeln, verglimmende Mond- und Dämmerungslandschaften. Die Weltabgeschiedenheit des Künstlerdorfs scheint nach Paulas Geschmack. Doch zugleich lockt und leuchtet in der Ferne Paris. "Große Malerei" wolle sie machen, schreibt sie ins Tagebuch:

"Ich verlebe jetzt eine seltsame Zeit. Vielleicht die ernsteste meines kurzen Lebens. Ich fühle, dass alle Menschen sich an mir erschrecken, und doch muss ich weiter. Ich darf nicht zurück."

Sie malt Madonnen: Bäuerinnen und dralle Säuglinge auf karierten Bauernkissen; sie malt Kinder-Szenen: großäugige, verloren blickende Mädchen mit Katzen, Hühnern und Blumen; sie malt ernste Portraits und große Selbstbildnisse. 1906 bricht sie ein letztes Mal nach Paris auf. Die endgültige Trennung von ihrem Mann, der Abschied von Worpswede scheinen besiegelt. Sie reißt sich los, um ganz neu anzufangen:

"Nun habe ich Otto Modersohn verlassen und stehe zwischen meinem alten Leben und meinem neuen Leben. Wie das wohl aussehen wird. Und wie ich wohl werde in dem neuen Leben? - Nun muss ja alles kommen ..."

In Paris entstehen ihre modernsten Bilder: Gesättigt von Farbe, voll seelischer Tiefe - Pionierleistungen der Malerei. Doch ihrem Mann gelingt es, sie nach Worpswede zurückzuholen: Sie erwartet ein Kind von ihm. Drei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, am 20. November 1907, stirbt sie - gerade 31 Jahre alt - an einer Embolie im Kindbett.
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