Vom Turmbau im Geiste des Kino

Von Jochen Stöckmann |
Der 142 Meter hohe "Torre Agbar" ist unter der Abkürzung "Agbar" seit Juli 2005 zum prägnanten Wahrzeichen Barcelonas geworden. Für dieses von ihm entworfene Werk erhält der französische Architekt Jean Nouvel den Internationalen Hochhaus Preis 2006. Gestiftet wurde der Preis für ein Gebäude, das sich durch besondere Ästhetik, zukunftsweisende Gestaltung, städtebauliche Einbindung, Nachhaltigkeit sowie innovative Technik und Wirtschaftlichkeit hervorhebt.
Hochhäuser fallen nicht vom Himmel - auch wenn manch Wolkenkratzer aus möglichst wenig Stahl und recht viel Glas danach aussieht. Das war nicht immer so, betont der französische Architekt Jean Nouvel mit einem für ihn ungewöhnlichen Blick zurück in die Baugeschichte. In jene Zeit, als selbst in New York oder Chicago noch Stein auf Stein gemauert wurde - und ein Turm nicht nur der Höhe wegen als etwas ganz Besonderes galt:

"Der amerikanische Standardturm sozusagen, ein urbanes Symbol. In der Stadt gab es schon immer vertikale Linien, die Kathedralen und Rathaustürme, selbst militärische Bauten, stets waren die Vertikalen das Zeichen der Identität."

Weniger an die amerikanischen Skyscraper als an die revolutionären Wolkenbügel des russischen Avantgardekünstlers El Lissitzy mag Nouvel gedacht haben, als er in den Achtzigern sein erstes Hochhaus entwarf - das nie gebaut wurde. Gedacht war die schlanke Säule als Demonstration einer neuen Baukultur, mitten in der Investorenarchitektur, den einfallslosen Trutzburgen des Pariser Büroviertels La Défense.

"Das war der Turm ohne Enden, wohlgemerkt: im Plural. Denn man hätte nicht gewußt, wo er beginnt und wo er endet. Der Sockel in einem 25 Meter tiefen Krater, als Krönung in etwa 100 Metern eine Glaskuppel, ohne jede Stahlstruktur, da wäre das als ein quasi immaterielles Objekt erschienen."

Das ist nun typisch für Nouvel, den Architekten, der nicht nur in Bildern denkt, sondern sie - mittlerweile - auch baut. In seinem "Torre Agbar" in Barcelona führen Fahrstühle an der Außenfassade bis hinauf in den 34. Stock. Da wird der Übergang regelrecht erfahrbar vom schwer lastenden Betonmantel zu einer doppelten Glashülle, die als leichte, zerbrechlich wirkende Kuppel himmelwärts strebt. Dieses listig vermittelte Aufeinandertreffen unterschiedlicher Materialien, die Schaffung spannungsgeladener Atmosphäre ist ein Prinzip, das Nouvel aus Pariser Tagen mit sich trägt, das er auch in La Défense realisieren wollte:

"Eine Art Jakobsleiter, die sich in den Wolken verliert, außerhalb aller Maßstäbe. Aber als Architektur so genau bezogen auf Paris wie die Schwingung einer gigantischer Stimmgabel. Denn wer Paris kennt, weiß um die Prägung durch die verschiedenen Himmel."

Nun ist der Himmel über Barcelona sicherlich ähnlich stimmungsvoll, aber eben anders als in Paris. Und weil Nouvel den "parachutisme" seiner Kollegen ablehnt, ihnen vorwirft, über jedem nur erdenklichen Fleck dieser Erde ein - und dieselben Entwürfe aus dem Computer abzuladen und - schlimmer noch – auch zu bauen, deshalb mußte es etwas Besonderes, etwas für Barcelona sein: 60.000 abgewinkelte Glasscheiben hat der Architekt verbauen lassen, 60.000 Facetten, in denen sich die fünfundzwanzig verschiedenen Farbtöne der darunterliegenden Aluminiumverkleidung brechen.

Je nach Lichtverhältnissen erscheint das Gebäude überirdisch hell, dann changiert es in allen erdenklichen Grautönen oder es schillert nachts in jener ausgedehnten Farbskala, die aus dem Hochhaus einen großstädtischen Leuchtturm macht. Knalliges Rot geht über in ein strahlendes Blau - das sind nicht zufällig die Farben des Fußballclubs von Barcelona. Aber Nouvel denkt über diese plakative Symbolik hinaus:

"Die Leute halten mich für einen Neo-Regionalisten, der charakteristische Elemente der Umgebung aufnimmt. Aber das ist ein triviales Verständnis von kontextuellem Bauen. Ich verstehe darunter, daß wir uns der Umwelt in jeder Hinsicht bewußt sind, historisch, geographisch, physisch. Das geht weit über die Grenzen eines Gebäudes hinaus."

Da braucht es mehr als nur freischweifende Phantasie, da braucht es ein analytisches, aber auch nicht allzu eingeengtes Instrumentarium - den Film! Nicht Kintopp, sondern formvollendetes Lichtspiel, das ist es, was diesen Architekten auf immer neue Gedanken bringt:

"Das Kino stellt den direkten Zusammenhang zwischen der Zeit und einer Lektüre des Raumes her, lehrt uns, den Raum anders zu sehen."

Nun sind Gedankenflüge das eine, reales Bauen in einer Höhe bis zu fast 150 Metern das andere. So mußte Nouvel bei seinem gläsernen Konsumtempel in der Berliner Friedrichstraße zusehen, wie sich ein Element nach dem anderen sich aus der so überaus leicht wirkenden Schwebfassade löste. Die Schwerkraft machte sich bemerkbar - und daran denken Hochhäuslebauer natürlich zuallererst:

"Architekten für hohe Türme sind selten, wohl auch, weil Investoren es da schnell mit der Angst bekommen. Man braucht da Disziplin was Kosten und Struktur angeht. Da kenne ich mich aus, dank meines Turms ohne Enden."

Und dieses Wissen, das darf man dem weitgereisten Architekten zugestehen, hat er in Barcelona um Ortskenntnisse erweitert. Der Standort seines Turmbaus, die Plaça de les Glòries, bildet dieser Schnittpunkt dreier städteplanerischer Hauptachsen. Mit Bofills Neubau des Nationaltheaters und einem Auditorium hat der Platz zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Und künftig werden Gebäude von Dominique Perrault und Zaha Hadid Nachbarn sein für ein Bauwerk, das auch in Nouvels langer Liste berühmter Arbeiten nicht allzu häufig ist: Neben dem Turm ohne Enden nämlich hat er allein in Japan einen Wolkenkratzer realisiert.

"Mein drittes Hochhaus ist der Agbar-Turm an einem der zentralen Stadtplätze. Durch ganz Barcelona geht ja eine Diagonale - bis hin zum Meer. Und der Turm markiert in dieser Achse einen Aufbruch, als eine Art Campanile."