Vom Vakuum in den Sog
Die Proganisten der acht Erzählungen verbindet etwas: Sie alle mussten ohne ihre Eltern aufwachsen, die in der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 "verschwunden" sind. Aber es geht nicht um die Gewalt an sich, sondern deren Auswirkung auf den Alltag.
Die acht Erzählungen dieses schmalen Bandes sind gefährlicher Stoff. Ganz unaggressiv kommen sie daher, nichts Besonderes scheint zu passieren, es ist, als ob da etwas fehlt, irgendein Halt, ein versicherndes Indiz. Aber durch dieses Vakuum gerät man vom ersten Satz an in einen Sog, in ein Gefühl ratloser Unruhe, das man bis zur letzten Seite nicht mehr los wird.
In der ersten Geschichte erzählt ein Junge von seinem banalen vorpubertär-sexuellen Erlebnis während der Ferien am Strand von Buenos Aires. Sein Cousin und dessen Kumpel schicken ihn vor, den "Playboy" zu kaufen, lassen ihn aber nur kurz das Cover anschauen, eine fast nackte Frau im Lotterbett, die einem direkt in die Augen sieht. Cousin Ramiro bezichtigt ihn, den verbotenen Kauf verraten zu haben. Nein, schwört er "bei meiner Mama". Ramiro kanzelt ihn ab: "Schwör nicht auf was, was du nicht hast."
Der kleine Ich-Erzähler schwelgt einen Moment lang in Rachefantasien, bevor er ebenso knapp mitteilt: "Außerdem hat er selber keine Mama." Und plötzlich fröstelt es einen, und man weiß, warum die Jungs mit ihren Omas Ferien machen. Die ganze Ungreifbarkeit wird greifbar, weil sie nicht bloß behauptet, sondern sehr subtil erzeugt wird.
In "UNIMOG" gehen nicht Fotos und Weiblich-Mütterlich-Sexuelles eine irritierende Liaison ein, sondern Männlich-Gewalttätiges und ein mobiles Symbol dafür. Ein Mann steckt den staatlichen Schadenersatz für die Hinterbliebenen der desaparecidos in den Erwerb dieses bei (Para-)Militärs weltweit beliebten Fahrzeugs, um noch einmal nach Córdoba zu fahren, einst Standort jenes Fernmeldebataillons 141, aus dessen Arsenal militante Oppositionelle Waffen erbeutet hatten - und einen UNIMOG. Danach war sein Vater dort verschwunden.
Während nun der Verkäufer von der Zuverlässigkeit des UNIMOG auch im Falkland-Krieg schwärmt, entfaltet plötzlich ein Satz, der ein paar Seiten zuvor trivial erschien, die Wucht eines Hammerschlags: "Es gab Leute, mit denen man reden konnte, und andere, mit denen nicht." Der Satz reißt ein beängstigendes Loch in alle Schutzwände. Wenn Sprache prinzipiell ambivalent geworden ist, ist nichts mehr verlässlich. Allenfalls Gesten, wie in einer anderen Erzählung, in der sich der Erzähler mit einem chinesischen Ladenbesitzer wortlos besäuft.
Alle Geschichten kreisen um das obsessiv empfundene Vakuum, das die verschwundenen Mütter und Väter in Argentinien hinterlassen haben. Eine Frau erzählt einem Mann vom Unfalltod ihres Vaters. Sie weiß, "dass meine Eltern während der Diktatur verschwunden waren - dies zu erwähnen ist gleichsam meine Visitenkarte -, und ich nehme an, sie wollte mir das Gefühl vermitteln, wir hätten etwas Gemeinsames."
Nicht alle Texte des Buches sind Ich-Erzählungen, einer ist reiner Dialog, der letzte eine ScienceFiction-Halluzination - kein einziger expliziert Greueltaten. In Bruzzones hochverdichteter Prosa geht es nicht um die Gewalt selbst, sondern darum, wie sich deren kollektive Erfahrung postum in den Alltag frisst, bis in die feinsten Kapillaren - und wie man sich ihrer Zerstörungskraft entzieht, um zu (über)leben.
Wahrhaft gefährlicher Stoff und - gerade weil er in einem speziellen Geschehen eines einzelnen Landes 1976 und danach verankert ist - von universaler Wirkmacht.
Besprochen von Pieke Biermann
Félix Bruzzone: 76
Aus dem Spanischen von Markus Jakob
Berenberg Verlag, Berlin 2010
144 Seiten, geb., 19 EUR
In der ersten Geschichte erzählt ein Junge von seinem banalen vorpubertär-sexuellen Erlebnis während der Ferien am Strand von Buenos Aires. Sein Cousin und dessen Kumpel schicken ihn vor, den "Playboy" zu kaufen, lassen ihn aber nur kurz das Cover anschauen, eine fast nackte Frau im Lotterbett, die einem direkt in die Augen sieht. Cousin Ramiro bezichtigt ihn, den verbotenen Kauf verraten zu haben. Nein, schwört er "bei meiner Mama". Ramiro kanzelt ihn ab: "Schwör nicht auf was, was du nicht hast."
Der kleine Ich-Erzähler schwelgt einen Moment lang in Rachefantasien, bevor er ebenso knapp mitteilt: "Außerdem hat er selber keine Mama." Und plötzlich fröstelt es einen, und man weiß, warum die Jungs mit ihren Omas Ferien machen. Die ganze Ungreifbarkeit wird greifbar, weil sie nicht bloß behauptet, sondern sehr subtil erzeugt wird.
In "UNIMOG" gehen nicht Fotos und Weiblich-Mütterlich-Sexuelles eine irritierende Liaison ein, sondern Männlich-Gewalttätiges und ein mobiles Symbol dafür. Ein Mann steckt den staatlichen Schadenersatz für die Hinterbliebenen der desaparecidos in den Erwerb dieses bei (Para-)Militärs weltweit beliebten Fahrzeugs, um noch einmal nach Córdoba zu fahren, einst Standort jenes Fernmeldebataillons 141, aus dessen Arsenal militante Oppositionelle Waffen erbeutet hatten - und einen UNIMOG. Danach war sein Vater dort verschwunden.
Während nun der Verkäufer von der Zuverlässigkeit des UNIMOG auch im Falkland-Krieg schwärmt, entfaltet plötzlich ein Satz, der ein paar Seiten zuvor trivial erschien, die Wucht eines Hammerschlags: "Es gab Leute, mit denen man reden konnte, und andere, mit denen nicht." Der Satz reißt ein beängstigendes Loch in alle Schutzwände. Wenn Sprache prinzipiell ambivalent geworden ist, ist nichts mehr verlässlich. Allenfalls Gesten, wie in einer anderen Erzählung, in der sich der Erzähler mit einem chinesischen Ladenbesitzer wortlos besäuft.
Alle Geschichten kreisen um das obsessiv empfundene Vakuum, das die verschwundenen Mütter und Väter in Argentinien hinterlassen haben. Eine Frau erzählt einem Mann vom Unfalltod ihres Vaters. Sie weiß, "dass meine Eltern während der Diktatur verschwunden waren - dies zu erwähnen ist gleichsam meine Visitenkarte -, und ich nehme an, sie wollte mir das Gefühl vermitteln, wir hätten etwas Gemeinsames."
Nicht alle Texte des Buches sind Ich-Erzählungen, einer ist reiner Dialog, der letzte eine ScienceFiction-Halluzination - kein einziger expliziert Greueltaten. In Bruzzones hochverdichteter Prosa geht es nicht um die Gewalt selbst, sondern darum, wie sich deren kollektive Erfahrung postum in den Alltag frisst, bis in die feinsten Kapillaren - und wie man sich ihrer Zerstörungskraft entzieht, um zu (über)leben.
Wahrhaft gefährlicher Stoff und - gerade weil er in einem speziellen Geschehen eines einzelnen Landes 1976 und danach verankert ist - von universaler Wirkmacht.
Besprochen von Pieke Biermann
Félix Bruzzone: 76
Aus dem Spanischen von Markus Jakob
Berenberg Verlag, Berlin 2010
144 Seiten, geb., 19 EUR