Vom Zauber einer Zahl
Wachstum ist ein Dogma, das immer häufiger infrage gestellt wird. © imago images / Westend61
Die Erfindung des Wirtschaftswachstums
28:22 Minuten
Wie ein delphisches Orakel werden regelmäßig Zahlen des Wirtschaftswachstums bekannt gegeben. Dass Staaten lange ohne die Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auskamen – kaum vorstellbar. Dabei ist die Entstehung des BIP nicht lange her.
15. Januar 2020, kurz vor zehn Uhr, im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin. Kameras und Mikrofone sind auf Albert Braakmann gerichtet. Der ist weder ein berühmter Schauspieler noch ein führender Politiker, sondern: Leiter der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen im Statistischen Bundesamt. Die gesamte Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet, weil er eine Zahl verkündet: "0,6 Prozent." Diese eine Zahl ist es, die den Statistiker für einen Augenblick zum Medienstar macht.
"Meine Damen und Herren, ich unterbreche nun die Pressekonferenz für einige Minuten, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, die Information zu verarbeiten."
Die anwesenden Journalistinnen und Journalisten greifen zu ihren Handys und geben die Zahl an ihre Redaktionen weiter. Die machen daraus – so schnell es geht – eine Nachricht. Der Aufschwung ist vorerst vorbei.
Der Indikator für den Wohlstand
Es ist ein über viele Jahre eingespielter Vorgang: 45 Tage nach Abschluss des Quartals veröffentlicht das Statistische Bundesamt das Bruttoinlandsprodukt. Und die Medien berichten, ob die Wirtschaft wächst, stagniert oder vielleicht sogar schrumpft. Es ist die magische Zahl für die Politik: das Bruttoinlandsprodukt – Indikator für den Wohlstand.
Es ist diese eine Zahl, die beeinflusst, wie die wirtschaftliche und damit auch politische Stimmung in einem Land ist. Die eine Zahl, die Unruhe stiftet oder Hoffnung gibt.
"Also es gibt nur diese eine Zahl oder diese eine Statistik, diesen einen Indikator, der so wirkungsmächtig ist in der Politik, wie das Bruttoinlandsprodukt."
Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies hat ein Buch darüber geschrieben: "Die Macht der einen Zahl" heißt es. Eine chinesische Übersetzung des Werks steht im Regal seines Büros an der Freien Universität Berlin.
Lepenies weiß: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war nicht immer so populär wie heute. Jahrhundertelang hing es allein an der Leidenschaft einzelner Persönlichkeiten, die Wirtschaftsleistung in Zahlen zu messen. Die Politik? Völlig desinteressiert! Erst vor etwa hundert Jahren begann der politische Erfolgskurs des BIP, das heute aus Parteiprogrammen nicht mehr wegzudenken ist.
Lepenies hat erforscht, wie es dazu kam. Die Geschichte reicht zurück bis in das England des 17. Jahrhunderts, und auf dem langen Weg in die Bundespressekonferenzen unserer Zeit wird die kleine hessische Kurstadt Bad Nauheim eine besondere Rolle spielen. Und eine skurrile Entführungsgeschichte.
Von alters her waren Herrscher daran interessiert, den Reichtum ihrer Untertanen zu messen. Schon in der Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments wird davon erzählt, dass König Augustus eine Volkszählung beauftragte, um Steuerlisten zu erstellen.
Mediziner, Politiker, Statistiker – ein Multitalent
Doch erst im 17. Jahrhundert wird der erste Versuch gemacht, systematisch zu erfassen, was die Bürgerschaft erwirtschaftet. Die Idee hatte ein junger Engländer, William Petty, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, ein Multitalent: Mediziner, Politiker, Statistiker und am Ende seines Lebens Großgrundbesitzer.
"Ihm war daran gelegen, dass seine Klasse, also die der Landbesitzer, steuerlich entlastet wurden. Das ist eigentlich so seine Idee hinter der politischen Arithmetik."
Die politische Arithmetik ist eine Vorgängerin der heutigen Statistik. Doch Petty fehlte im 17. Jahrhundert die Basis für jedwede Analyse: Daten.
"Man muss sich das so vorstellen: Da kommt einer auf die Idee, die Komplexität der Gesellschaft in Zahlen zu fassen, ohne dass es Zahlen gibt. Der konnte ja auch nicht zum statistischen Amt gehen und irgendwelche Zahlen erfragen."
Auf diesen Mangel reagierte Petty erfinderisch: "Wenn Sie in die Werke von Petty reingucken, dann ist das auch alles nur im Text. Also da gibt es keine Tabellen, da gibt es keine konkreten Zahlen, sondern die sind meistens auch ausgeschrieben. Das zeigt auch, dass man so, so wie man sich das heute vorstellt, wie man mit Zahlen und Daten umgeht, dass das noch überhaupt nicht in den Köpfen drinnen war. Also kurzum: Er hat es erfunden."
Und damit etwas revolutionär Neues geschaffen: Mit seiner Methodik der Einkommensberechnung versuchte William Petty zum ersten Mal, ein messbares und verlässliches Bild der sozialen und ökonomischen Realität des Landes zu zeichnen.
Kein Interesse an der neumodischen Herangehensweise
Bis heute beschreibt das Volkseinkommen das Arbeits- und Vermögenseinkommen der Staatsbürger eines Landes. Addiert man hier Steuern und Abschreibungen hinzu, erhält man das Bruttonationaleinkommen, bis 1999 hieß es Bruttosozialprodukt. Heute spricht man vom Bruttoinlandsprodukt. Das Bruttoinlandsprodukt beschreibt den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die von In- und Ausländern innerhalb eines Landes produziert werden.
Im 17. Jahrhundert hielten die politischen Entscheidungsträger jedoch nicht viel von Pettys neumodischer Herangehensweise. Die Wirtschaftswissenschaften beruhten damals nicht auf Empirie, sondern auf Theorie. Ökonomen stritten nicht um Zahlen, sondern um Ideen. Und diese Ideen machten Politik. Sehr lange noch. Erst in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich das.
Die Welt hatte inzwischen die größte Revolution der Geschichte erlebt, die industrielle Revolution, die Wirtschaft folgte einer ganz anderen Rationalität und hatte eine ganz andere Dynamik als zu Zeiten des William Petty. Doch plötzlich stand die Welt vor einer Katastrophe, in der man händeringend nach Ansätzen suchte, sie zu begreifen und zu überwinden, so Politikwissenschaftler Philipp Lepenies.
"Das Auf und Ab der Wirtschaft, das war wie ein natürlicher Prozess. Und 1929 sieht das auf einmal anders aus. Da wird es quasi immer schlimmer. Und es gibt aber niemanden, der diese Gesamtsituation erklären kann."
Ein Chemiker sammelt ökonomische Daten
1929. Der Börsenkrach in New York. Weltwirtschaftskrise. Ökonomen und Regierungen: ratlos. In dieser Zeit begann in England ein 25-Jähriger, Zahlen über die wirtschaftliche Situation zu sammeln: Colin Clark. Er war jedoch kein Ökonom, sondern Chemiker.
"Und vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb er anfängt, diese Ideen von Petty wieder auszugraben, weil er als Naturwissenschaftler entsetzt darüber ist, wie seine Kollegen aus der Ökonomie mit dieser Situation umgehen. Und sagte, wenn die das nicht können, dann mach ich das doch selber. Und dann muss man sich das wirklich so vorstellen, dass er als absoluter Einzelgänger ohne finanzielle Unterstützung durch England tingelte und versuchte, von Gewerkschaften, von Handelsvereinigungen, von Hafenbehörden, einfach Daten über die Gesamtwirtschaft zu bekommen und die dann zusammenzufassen in das Konzept des Volkseinkommens."
Doch Colin Clark geht es ähnlich wie dem visionären William Petty im 17. Jahrhundert: So beeindruckend das Vorhaben Clarks aus heutiger Perspektive ist – die britische Regierung interessiert sich nicht dafür. Erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs wird der britische Ökonom John Maynard Keynes auf Clark aufmerksam.
"Keynes war fasziniert von diesem Maverick, ja, von diesem Einzelkämpfer, der da in der ökonomischen Profession sich tummelte, obwohl er Chemiker war und diese Bücher auf eigene Kosten publizierte, die nur aus Tabellen bestanden. Also ganz anders als diese Schriften von William Petty, sondern: Das waren wirklich die ersten sozialwissenschaftlichen Publikationen, die man heute aufmacht. Die waren auch meistens sehr dünn, 100 Seiten vielleicht, voller Tabellen. Wenig Text, wenig Theorie, einfach nur Tabellen."
Als der Zweite Weltkrieg beginnt, nutzt Keynes die Daten von Clark, um zu berechnen, wie viel Steuern zur Bezahlung der Kriegsmaschinerie eingetrieben werden könnten. Er schreibt ein Dokument mit dem Namen "How to pay for the war", "Wie man den Krieg bezahlen kann", in dem er Clarks Arbeit in den höchsten Tönen lobt.
"Um die Größe des Kuchens zu ermitteln, der der Zivilgesellschaft bleibt, müssen wir schätzen. Doch die Statistiken, auf deren Grundlage wir schätzen können, sind sehr unangemessen. Jede Regierung seit dem letzten Krieg war unwissenschaftlich und undurchsichtig und hat die Sammlung essenzieller Fakten als Geldverschwendung abgetan. Heute gibt es niemanden, innerhalb oder außerhalb des Regierungsgebäudes, der nicht zu großen Teilen auf die brillanten und privaten Bemühungen von Mister Colin Clark angewiesen ist. Doch auch er konnte ohne staatliche Statistik oft nicht mehr, als wacker schätzen."
Keynes legt diese Schrift der englischen Regierung vor, woraufhin das Finanzministerium zwei junge Ökonomen beauftragt, zur Planung der Kriegsaktivität eine Volkseinkommensschätzung vorzunehmen. Der Auftrag gilt als "Geburtsstunde der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" in England. Allerdings sind die Zahlen von damals kaum mit heutigen zu vergleichen. Es entsteht zunächst nur ein Gesamteindruck der Wirtschaft mit Fokus auf das Einkommen der Bevölkerung.
Colin Clark hatte erkannte, dass man das Volkseinkommen aus drei Perspektiven berechnen kann: indem man die Produktionsdaten erfasst, die Einkommensdaten oder den Konsum. Dasselbe gilt für das Bruttosozialprodukt und Bruttoinlandsprodukt. Clark gilt damit einer der wichtigsten Vordenker des heutigen Bruttoinlandsprodukts.
Die USA richten ihren Blick auf die magische Zahl
Zeitgleich mit den Entwicklungen in Großbritannien beginnen die USA, ihren Blick auf die eine magische Zahl zu richten. Auch hier hat die Wirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre den entscheidenden Anstoß gegeben.
"In der Weltwirtschaftskrise war klar: Es gibt ganz viele Menschen, deren Lebensstandard ist extrem gesunken. Es gibt ganz viele Menschen, die haben gar keine Einkommen mehr. Es gibt ganz viele Menschen, die leben im Elend. Also wollte man natürlich wissen: Was haben diese Leute denn noch zum Leben? Deswegen ist dieses Wort "Volkseinkommen" auch genau der Fokus, der damals gelegt wurde. Nämlich das Einkommen. Und das Einkommen, wenn Sie so wollen, des Volkes, des einfachen Volkes. Wie viel haben die Leute noch in der Tasche? Das war die politische Information, die wichtig war."
Während in England in den 1930er-Jahren der Einzelgänger Colin Clark Daten erhebt, die die Politik nicht interessieren, ist es in den USA umgekehrt: Es ist der Staat, der plötzlich Zahlen einfordert. Um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen, lädt der Senator von Wisconsin im Herbst 1931 Industrielle zu einer Anhörung in den US-Kongress. Es kommen Stahlbarone aus Pittsburgh, Automanager aus Detroit und andere Produzenten: Sie berichten den Senatoren, wie es bei ihnen in den Fabriken aussieht.
Der Ausschuss ist der Ansicht, dass es hilfreich ist, sich ein Bild von den wirtschaftlichen Trends zu machen, die vor der Depression vorherrschten und die sich während der Depression manifestiert haben.
Schätzung des Volkseinkommens wird staatliche Aufgabe
Im Anschluss an die Konferenz wird die Schätzung des Volkseinkommens zur staatlichen Aufgabe erklärt. Ein Meilenstein in der Geschichte der Volkswirtschaft: Erstmals erkennt ein Parlament den politischen Nutzen der makroökonomischen Zahl.
Den Auftrag, das Volkseinkommen zu ermitteln, erhält Simon Kuznets: ein Ökonom russisch-jüdischer Herkunft, der nach Amerika emigriert war. Mit Anfang 20 hatte er bereits das Statistische Amt in der Planwirtschaft der heutigen Ukraine geleitet. Für den Politikwissenschaftler Philipp Lepenies ist das eine Ironie der Weltgeschichte:
"Paradoxerweise heißt das ja, dass die wichtigste Kennzahl des Kapitalismus und des US-Kapitalismus, nämlich Bruttosozialprodukt, später Bruttoinlandsprodukt, maßgeblich auf die Methode, auf der Methode basiert, die ein Sowjet-Russe gemacht hat. Da gibt halt den direkten Link zu der sozusagen statistischen Kompetenz der sowjetischen Planwirtschaft auf das kapitalistischste aller Denkmodelle, nämlich Wachstum und die damit verbundene Kennzahl des Bruttoinlandsprodukts."
Simon Kuznets entwickelt in den USA ein ähnliches System zur Berechnung wie Colin Clark in England – völlig unabhängig voneinander. Und während in England erst Keynes ein Wort für Clark einlegen muss, gehen die Zahlen, die Kuznets erhebt, in den USA direkt in die politische Rhetorik ein. US-Präsident Roosevelt erkennt ihren Nutzen.
"Die Roosevelt-Regierung merkt, mit dieser Zahl, mit dieser Information, können wir arbeiten. Die können wir auch als Grundlage für den Erfolg unserer Regierung nehmen, indem wir immer sagen können, das Volkseinkommen ist gestiegen. Wir sind zwar noch nicht so weit wie damals vor 1929, aber wir sind auf einem guten Weg et cetera. Also mit Roosevelt nimmt das praktisch seinen Erfolgskurs."
Produktionskraft statt Volkseinkommen
Der Zweite Weltkrieg: 1941 werden auch die USA in diesen Krieg hineingezogen und müssen gewaltige Mittel in die Kriegsproduktion stecken. Das Geld, das für den Krieg benötigt wird, steht den normalen Menschen nicht mehr zur Verfügung. Das Einkommen der Bevölkerung sinkt. Für Roosevelts Regierung ein Problem: Denn das Narrativ des Wachstums, das der Bevölkerung zugutekommt, ist gefährdet.
Aber die Administration findet einen Ausweg, mit einem Trick: Kuznets hatte in seinen bahnbrechenden Berechnungen das Einkommen ermittelt und so die Entwicklung des allgemeinen Wohlstands gemessen. Im Krieg legt die US-Wirtschaft nun den Fokus auf die Produktion. Und die steigt im Krieg immer weiter an. Also kann der Präsident positive volkswirtschaftliche Bilanzen präsentieren, auch wenn es der Bevölkerung nicht unbedingt besser geht.
Es ist wieder ein welthistorischer Moment in der Geschichte der Volkswirtschaft: Das Bruttosozialprodukt tritt seinen globalen Siegeszug an. Von nun an ist nicht mehr das Einkommen, sondern die Produktionskraft das volkswirtschaftliche Maß aller Dinge – ein Paradigmenwechsel im Krieg, der auch nach dem Krieg gültig bleiben wird.
Die Vermessung der deutschen Wirtschaft
Deutschland, der Kriegsgegner, wird durch den alliierten Bombenkrieg von Jahr zu Jahr immer stärker zerstört. 1944/45 ist klar, dass die Alliierten den Krieg gewinnen werden. Und die US-Regierung würde gern wissen, welche Auswirkungen die Bombardements auf die deutsche Wirtschaft haben. Doch das ist kaum zu ermitteln.
"Aber de facto hatte man in Deutschland ganz lange eigentlich gar keine Zahlen zur Produktion: Sie haben ja auch in Deutschland ganz lange kein Wirtschaftsministerium oder überhaupt Institutionen, die sich für Wirtschaft interessieren. Die, das damalige Dogma war: Laissez faire, also man sorgt dafür, dass die Wirtschaft machen kann, was sie will."
Unter den Nazis werden Unternehmen zwar gezwungen, ihre Daten weiterzugeben. Aber dahinter steckt kein volkswirtschaftliches Ziel, so Philipp Lepenies:
"Die Zahl und die Idee des Volkseinkommens spielten in den Statistiken der Nazizeit überhaupt keine Rolle. Also, Sie finden keine Hitlerrede, wo er zum Volkseinkommen sich äußert, oder wo man das Gefühl hätte, die deutsche Wirtschaft der Nazizeit nutzt dieses Wort, nutzt dieses Konzept. War einfach nicht der Fall."
Es gibt aber einen Mann, der die Aufgabe hat, alle Informationen zur industriellen Produktionskapazität des Deutschen Reiches zu bündeln: Rolf Wagenführ, der statistische Leiter des Rüstungsministeriums. Diesen Mann brauchen die Amerikaner, um die volkswirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Bombardements einschätzen zu können. Gegen Ende des Krieges schicken sie den schon damals renommierten Ökonomen John Kenneth Galbraith mit einem Team nach Deutschland, nach Bad Nauheim in der Nähe von Frankfurt am Main.
Ein Statistiker im Schlafanzug
75 Jahre später läuft Gisela Christiansen durch die im Jugendstil errichtete Kuranlage Bad Nauheims am Springbrunnen und den anliegenden Badehäusern entlang. Die ehemalige Stadtführerin erzählt, was sich hier kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zutrug.
"Und da gibt es eben auch Fotos, die Galbraith mit seinem Team zeigen, die hier auf einer Bank sitzen und offensichtlich also auch mal relaxen. Es kann natürlich auch sein, dass sie bei schönem Wetter hier draußen vielleicht auch mal eine kleine Besprechung abgehalten haben."
Galbraith und sein Team haben ihr Büro in einem Badehaus eingerichtet. Heute ist es abgerissen. Stattdessen ist dort ein Parkplatz.
Zunächst befragt Galbraith führende Nazi-Größen: Hermann Göring, den Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister. Beide werden im Mai 1945 von den Alliierten verhaftet. Galbraith wird klar: Entscheidend für seine Mission ist es, an Ralf Wagenführ heranzukommen. Der allerdings hat sich in den sowjetischen Sektor Berlins verzogen.
"Und dann hat Galbraith einen seiner Mitarbeiter, Baran, damit beauftragt, irgendwie Wagenführ eben aufzuspüren und den einfach hierher zu bringen. Und Baran, das war so ein bisschen ein Draufgängertyp, er muss ja ein lustiger Typ auch gewesen sein, der hat in der Sowjetunion also auch schon gearbeitet, Statistiken erstellt und so weiter und war aber dort wegen Disziplinlosigkeit und Respektlosigkeit rausgeworfen worden und in den Westen geflohen. Also, er war schon eine ziemlich spezielle Persönlichkeit und der hat ein paar von seinem Mitkameraden dann dazu überredet:
Wir fahren nach Berlin und wir holen diesen Wagenführ und haben ihn wahrhaftig aufgespürt und haben ihn buchstäblich, mitten in der Nacht, aus dem Bett heraus, mit dem Schlafanzug, man weiß nicht, ob er vielleicht sich noch etwas anziehen durfte, also davon darf man ausgehen, das ist natürlich nicht überliefert, aber sie haben ihn dann praktisch direkt so aus dem Bett heraus nach Bad Nauheim gebracht."
Wagenführ wird in Bad Nauheim befragt und liefert die benötigten Informationen. Danach wird er umgehend zurück nach Ost-Berlin gebracht. Der Vorfall führt beinahe zu einer ernsthaften diplomatischen Verstimmung zwischen den USA und der Sowjetunion, die kurz nach Kriegsende offiziell noch zusammenarbeiten.
Ein Amerikaner schätzt als Erster das deutsche BIP
Galbraith hat nun die Informationen, die er benötigt und kann einschätzen, wie sich die alliierten Bombardements auf die Wirtschaftsstrukturen Deutschlands ausgewirkt haben. Er, der Amerikaner, ist der Erste, der das Bruttosozialprodukt für Deutschland zu schätzen versucht. Gleichzeitig ist er auch einer der ersten Kritiker desselben.
"Was mich besonders an ihm fasziniert hat: Er war schon sehr sozialkritisch und er hat zum Beispiel diese Überflussgesellschaft angeprangert, diese ständige Ankurbelung eines Wirtschaftswachstums. Das gefiel ihm gar nicht. Er hat auch sehr angeprangert diese sozialen Unterschiede, die dadurch entstanden sind. Und er hat, gerade in den 50er-Jahren, eben gerade schon darauf hingewiesen, dass dieses permanente Wirtschaftswachstum auch schädlich für die Umwelt ist. Ein Gedanke, der heute ganz gang und gäbe ist, aber das hat er damals schon erkannt. Das heißt, er war sehr weitsichtig und er muss wirklich eine sehr, sehr interessante Persönlichkeit gewesen sein."
Galbraith entwickelt sich zum Kritiker der zunehmenden politischen Instrumentalisierung der neuartigen Wirtschaftsstatistik und ihrer Fixierung auf Wachstum – aber er ist der Mann, der in Westdeutschland dieser Fixierung zum Durchbruch verhilft. Die benötigten Zahlen dafür liefert ihm der einstige Chefstatistiker des NS-Regimes.
Berechnungen für den Wiederaufbau
Der entscheidende ökonomische Hebel ist dann aber der Marshallplan. Den Empfängerländern des Marshallplans wird aufgetragen, das Bruttosozialprodukt nach US-amerikanischer Methode zu berechnen, um einschätzen zu können, wie viel Geld für den Wiederaufbau benötigt wird. Die einzige systematische Erfassung der deutschen Wirtschaftsleistung hatte es 1936 gegeben, um den Krieg besser planen zu können. Als das deutsche Statistische Amt die Daten berechnen will, gibt es ein Problem – wie die Bad Nauheimer Stadtführerin Gisela Christiansen erzählt:
"Diese Daten, die lagen in Berlin, wo die Abteilung für industrielle Produktionsstatistik ihren Sitz hatte, und die Unterlagen waren in einem Gebäude, was sich in dem sowjetischen Sektor befand und nicht frei zugänglich war, und da gab es einen Offizier, dem haben die Mitarbeiter gesagt: Die Unterlagen befinden sich da und dort, aber wir kommen nicht ran, und dieser Offizier ist dann einfach in das Gebäude eingebrochen und hat die Unterlagen dort gestohlen."
Über 70 Jahre später erzählt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies, wie sich die Einführung des Bruttosozialprodukts auf das wirtschaftspolitische Denken ausgewirkt hat. Denn damit geht das Dogma des messbaren Wirtschaftswachstums einher.
Die Formel: Mehr Wachstum gleich mehr Produktion gleich mehr Arbeitsplätze. Mehr "Wohlstand für alle", wie der Bundeswirtschaftsminister der 50er-Jahre, Ludwig Erhard, verspricht. Hinzu kommt das Kräftemessen zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Kalten Krieg.
"Jeder hat ein Auto, jeder hat ein Haus, jeder macht Reisen, jeder hat 1000 Küchengeräte, die man vorher nicht hatte, bis in die 60er-Jahre war das so das Bild. Aber immer mit dem Unterton: Und dann wird man nicht kommunistisch und dann bleibt man frei und dann ist man wie die Amerikaner, und so wollten die Bundesrepublikaner ja auch sein."
Die wirtschaftliche Vermessung aller Länder
Wirtschaftswachstum, Wohlstand, Freiheit: Das ist die amerikanische Botschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Sogar in der Charta der Vereinten Nationen hat diese Orientierung ihren Niederschlag gefunden.
"De facto haben die Amerikaner durch ihren Einfluss im UN-System auch dafür gesorgt, dass die ganzen Ex-Kolonien, die dann im Laufe der 50er-Jahre und im ersten Teil der 60er-Jahre unabhängig wurden, eben plötzlich gezwungen waren, aufgrund von UN-Vereinbarungen, ein Bild ihrer Gesellschaften und ihrer Wirtschaft zu malen, das von außen aufoktroyiert war und das vielleicht auch die Gegebenheiten der bestimmten Produktionsweisen vor Ort gar unbedingt nicht adäquat reflektiert hat."
Im bundesdeutschen Wirtschaftsjournalismus spielt das Wachstum lange keine Rolle. Erst Mitte der 60er-Jahre beginnen die deutschen Medien, die veröffentlichten Wirtschaftszahlen zu Nachrichten über die Lage der Nation zu verarbeiten:
"Die Zeit im Funk. Guten Abend meine Damen, guten Abend meine Herren. Der politische Teil unserer aktuellen Tagesübersicht bringt Ihnen heute: Berlin, das beste Wirtschaftsjahr seit 1961. Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts hat sich fast verdoppelt."
RIAS Berlin 1964. Was damals neu war, ist heute ritualisierte Routine. Vier Mal im Jahr veröffentlicht das Statistische Bundesamt das Bruttoinlandsprodukt des letzten Quartals, vier Mal im Jahr verarbeiten die Medien diese Zahl zu einer Nachricht.
Das BIP in der Kritik
"Wichtig ist eigentlich für die meisten Leute nur: Gibt es Wachstum oder nicht? Und: Herrscht Vollbeschäftigung? Das ist das, was die Leute an sich interessiert", sagt Ulrike Herrmann, Wirtschaftsjournalistin und Autorin diverser Bücher über das Wirtschaftssystem.
Weil die Menschen von ihr ableiten, wie es um ihren Job und ihren Wohlstand steht, hat die eine Zahl ihre magische Wirkung entfaltet. Darin steckt allerdings, betont Philipp Lepenies, ein grundsätzliches Problem:
"Auf den Punkt gebracht: Durch das Wachstum vermeidet die Politik, die Debatten zu führen, die wehtun. Und die das ganze 19. Jahrhundert wehgetan haben. In ganz Westeuropa. Nämlich Verteilungsfragen. Und die Frage nach unserer Gesellschaft, wie wir sie haben wollen, wo Menschen sich wohlfühlen."
Solange der Wohlstand breiter Schichten durch Wachstum erzielt werden kann, funktioniert das System. Deshalb sind Politik und Medien so sehr auf die eine Zahl fixiert, deren Verkündung heute zu den festen Riten der Industriegesellschaft gehört. Doch die Methode, den Wohlstand einer Nation an einer einzigen Zahl zu messen, scheint an ihre Grenzen zu stoßen.
"Die Fixierung auf eine Zahl, die keinen Unterschied macht zwischen klimaschädlichen Kohlekraftwerken oder Erzeugern regenerativer Energien"
"Auf eine Zahl, die steigt, wenn irgendwo ein Auto gegen einen Baum fährt und repariert werden muss."
"Auf eine Zahl, die nicht berücksichtigt, wenn Menschen neben ihrer Arbeit Angehörige pflegen oder Kinder erziehen."
Zumal in Zeiten, in denen der Klimawandel das Leben der Menschen bedroht, wachsen die Zweifel daran, ob das Bruttoinlandsprodukt wirklich das Maß aller Dinge ist.
In der Corona-Krise zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Wachstumskonzepts: Die sinkende Wirtschaftsleistung ist gut für das Klima, aber bedrohlich für Wirtschaft und Gesellschaft. Und so versucht die Politik, mit historisch großen Hilfsprogrammen wieder das Wachstum anzukurbeln.
Mit allen Folgen für das Klima, wie der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies sagt: "Durch das Wachstum vermeidet die Politik, die Debatten zu führen, die wehtun."
Die Erstausstrahlung des Features war am 22. April 2020.
Autorinnen: Kristin Langen und Leonie Sontheimer
Sprecherin: Luise Wolfram
Ton und Technik: Peter Seyfert
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Winfried Sträter