Von Adam und Eva zum Nacktscanner
Für die einen ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben ein Meisterdenker, für andere ein Scharlatan. Zweispältig ist auch seine Essaysammlung zum nackten Körper - neben originellen Texten zum Thema finden sich Beiträge, auf die man gut hätte verzichten können.
Die Studie "Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben" hat ihren Autor berühmt gemacht: 1995 ist sie im Original, 2002 auf Deutsch erschienen, und seither gilt der italienische Philosoph Giorgio Agamben manchen als Meisterdenker, anderen als Scharlatan. Im Zentrum des Buches steht das "bloße", das "nackte Leben".
Dabei greift Agamben auf das archaische römische Recht zurück. Dort gab es eine Rechtsfigur, der zufolge derjenige als "sacer" galt, den das Volk wegen eines Delikts anklagte. Verboten war es, diesen Angeklagten zu opfern, gleichwohl aber konnte er getötet werden, ohne dass der Täter befürchten musste, wegen Mordes verklagt zu werden. Die damit verbundenen Konsequenzen für Recht und Ethik hat Agamben in jenem Buch bis hin zur Entstehung der Gefangenen- und Vernichtungslager des 20. Jahrhunderts verfolgt. Das Wesen des Lagers ist überall dort zu finden, wo der Ausnahmezustand herrscht und ein Rechtsraum besteht, in dem das nackte Leben bedroht ist, weil die "normale Ordnung de facto aufgehoben ist". Unweigerlich gelangt Agamben von diesem Ansatz zu allgemeinen politisch-theoretischen Begriffen wie Macht und Gewalt.
Vom nackten Körper ist in der Essaysammlung die Rede, die jetzt unter dem Titel "Nacktheiten" erschienen ist. Hier unterscheidet Agamben zwischen der Nacktheit vor und nach dem Sündenfall. Adam und Eva waren vor dem Sündenfall zwar unbekleidet, aber von einem Kleid der Gnade bedeckt. Dieses Kleid fällt durch die Sünde von ihnen ab. Entblößt sind sie gezwungen, ihre Scham zu bedecken. Zugleich werden ihnen, als sie im Paradies ihre Nacktheit erblicken, die Augen aufgetan. Daraus folgert Agamben, dass die Hüllenlosigkeit, die sie sehen, ihnen die Augen für das Erkennen der Wahrheit öffnet. Der nackte Körper, der ohne jedes Geheimnis ist, wird für Agamben zur "Chiffre der Erkenntnis".
Um Erkenntnis auf ganz anderer Ebene geht es in dem Beitrag "Unpersönliche Identität". Hier warnt Agamben vor den Gefahren, die mit der Erfassung von DNA-Informationen und biometrischen Daten einhergeht. Selbst in demokratischen Systemen verbürgt dann eine Maschine dem Einzelnen, dass er lebt. Es ist der Speicher des "Großen Gedächtnisses", der ihm garantiert, dass er nicht vergessen wird. Aber er existiert allein auf der Grundlage von nackten Daten.
Agamben ist in seinen Argumentationen immer dann überzeugend, wenn er beim geschichtlichen Rückgriff den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen nicht aus den Augen verliert. Dann gelingen ihm verblüffende Einsichten; dann führt seine philologische Akribie zu originellen Ergebnissen. Doch daneben stehen auch Beiträge, auf die man gut hätte verzichten können. Entweder wenn der Autor (wie in "Schöpfung und Erlösung") zu grob verallgemeinert, oder weil er (wie in "Vom Nutzen und Nachteil, unter Gespenstern zu leben" und "Das letzte Kapitel der Weltgeschichte") nicht deutlich macht, weshalb es sich dabei um Beiträge zum übergreifenden Thema "Nacktheiten" handelt.
Besprochen von Michael Opitz
Giorgio Agamben: Nacktheiten
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
199 Seiten, 19,95 Euro
Dabei greift Agamben auf das archaische römische Recht zurück. Dort gab es eine Rechtsfigur, der zufolge derjenige als "sacer" galt, den das Volk wegen eines Delikts anklagte. Verboten war es, diesen Angeklagten zu opfern, gleichwohl aber konnte er getötet werden, ohne dass der Täter befürchten musste, wegen Mordes verklagt zu werden. Die damit verbundenen Konsequenzen für Recht und Ethik hat Agamben in jenem Buch bis hin zur Entstehung der Gefangenen- und Vernichtungslager des 20. Jahrhunderts verfolgt. Das Wesen des Lagers ist überall dort zu finden, wo der Ausnahmezustand herrscht und ein Rechtsraum besteht, in dem das nackte Leben bedroht ist, weil die "normale Ordnung de facto aufgehoben ist". Unweigerlich gelangt Agamben von diesem Ansatz zu allgemeinen politisch-theoretischen Begriffen wie Macht und Gewalt.
Vom nackten Körper ist in der Essaysammlung die Rede, die jetzt unter dem Titel "Nacktheiten" erschienen ist. Hier unterscheidet Agamben zwischen der Nacktheit vor und nach dem Sündenfall. Adam und Eva waren vor dem Sündenfall zwar unbekleidet, aber von einem Kleid der Gnade bedeckt. Dieses Kleid fällt durch die Sünde von ihnen ab. Entblößt sind sie gezwungen, ihre Scham zu bedecken. Zugleich werden ihnen, als sie im Paradies ihre Nacktheit erblicken, die Augen aufgetan. Daraus folgert Agamben, dass die Hüllenlosigkeit, die sie sehen, ihnen die Augen für das Erkennen der Wahrheit öffnet. Der nackte Körper, der ohne jedes Geheimnis ist, wird für Agamben zur "Chiffre der Erkenntnis".
Um Erkenntnis auf ganz anderer Ebene geht es in dem Beitrag "Unpersönliche Identität". Hier warnt Agamben vor den Gefahren, die mit der Erfassung von DNA-Informationen und biometrischen Daten einhergeht. Selbst in demokratischen Systemen verbürgt dann eine Maschine dem Einzelnen, dass er lebt. Es ist der Speicher des "Großen Gedächtnisses", der ihm garantiert, dass er nicht vergessen wird. Aber er existiert allein auf der Grundlage von nackten Daten.
Agamben ist in seinen Argumentationen immer dann überzeugend, wenn er beim geschichtlichen Rückgriff den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen nicht aus den Augen verliert. Dann gelingen ihm verblüffende Einsichten; dann führt seine philologische Akribie zu originellen Ergebnissen. Doch daneben stehen auch Beiträge, auf die man gut hätte verzichten können. Entweder wenn der Autor (wie in "Schöpfung und Erlösung") zu grob verallgemeinert, oder weil er (wie in "Vom Nutzen und Nachteil, unter Gespenstern zu leben" und "Das letzte Kapitel der Weltgeschichte") nicht deutlich macht, weshalb es sich dabei um Beiträge zum übergreifenden Thema "Nacktheiten" handelt.
Besprochen von Michael Opitz
Giorgio Agamben: Nacktheiten
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
199 Seiten, 19,95 Euro