Von "Angstlust" und der Suche nach dem nächsten Kick

Ulrich Reinhardt im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Heute will der österreichische Fallschirmspringer Felix Baumgartner einen Sprung aus 35 Kilometern Höhe wagen. "Wenn man wirklich ganz bewusst sein Leben riskiert und eben nicht weiß, wo die Grenze möglicherweise ist, das halte ich für eine problematische Entwicklung", sagt der Freizeitforscher Ulrich Reinhardt.
Gabi Wuttke: Die Wüste von Neu Mexico, dort will ein Österreicher heute wieder Boden unter die Füße bekommen, nach seinem Fallschirmsprung aus mehr als 35 Kilometern Höhe (Anm. der Redaktion: An dieser Stelle weicht die Schriftfassung von der gesendeten Fassung ab.).
Am Telefon ist jetzt Ulrich Reinhardt, er leitet das Institut für Zukunftsfragen in Hamburg und beschäftigt sich vor allem mit anderer Leute Freizeit. Einen schönen guten Morgen.

Ulrich Reinhardt: Schönen guten Morgen!

Wuttke: Ist die Risikobereitschaft von Felix Baumgartner Ihnen unheimlich? Mir schon!

Reinhardt: Also ich würde es nicht machen. Fangen wir mal so an. Aber wir leben natürlich in einem Zeitalter der Extreme und dann ist es auch nicht verwunderlich, dass solche Extremleistungen dann eben auch immer wieder von Menschen durchgeführt werden. Die Hauptsache ist natürlich, dass dem Herrn Baumgartner nicht das Gefühl für die Gefahr verloren geht, denn er hat ja ganz offen gesagt: Der Tod springt immer mit.

Wuttke: Spielt der Mann mit dem Tod, mit dem Leben, oder mit sich selbst?

Reinhardt: Mit beiden sicherlich. Natürlich ist er Profi, er hat fünf Jahre auf diesen Sprung hintrainiert, hingelebt, er hat ein Team um sich herum von Medizinern bis zu Psychologen, die ihn versucht haben zu unterstützen. Aber letztendlich ist er derjenige, der dann abspringen wird, der diese gut fünfeinhalb Minuten im freien Fall dort durchführen wird. Insofern ist er natürlich jemand, der sich selbst dann auch bewusst sein muss, dass er dort Leib und Leben riskiert.

Wuttke: Ist das Geltungssucht, eine Sucht, die womöglich mit dem Bungee-Springen anfängt?

Reinhardt: Na ja, gut, bei Herrn Baumgartner ist es natürlich schon professionell, das ist sein Beruf. Er lebt von diesen Sprüngen, das macht er relativ lange. Er hat sicherlich auch dafür gut trainiert, er verdient aber auch sein Geld damit, und dann ist es natürlich auch klar, dass er sich immer neue Rekorde sucht und jetzt eben diesen Rekord angepeilt hat.

Für den Normalbürger – da darf man nie vergessen, wenn wir jetzt übers Bungee Jumping sprechen -, das Hauptmotiv der Leute ist natürlich einerseits immer die Angstlust, andererseits aber natürlich auch einfach der Spaßfaktor. Aber ich glaube, bei Herrn Baumgartner tritt der Spaß heute ein wenig in den Hintergrund.

Wuttke: Was ist denn "Angstlust"?

Reinhardt: Angstlust ist, praktisch etwas zu schaffen, Endorphine werden ausgeschüttet, man begibt sich in eine Situation, die nicht alltäglich ist, und landet dann irgendwann wieder auf dem Boden der Tatsachen, getreu dem Gefühl "I did it!", ich hab's geschafft, habe einen gewissen Kick für mich erreicht und fühle mich danach einfach besser.

Wuttke: Warum gibt es Menschen, die, um das mal allgemein zu fragen, ihr Leben riskieren, um immer tiefer, immer höher, immer weiter zu kommen? Stimmt da also was mit dem Hormonhaushalt nicht, oder fehlt ihnen was im Leben?

Reinhardt: Ich glaube wirklich, Menschen, die sich ganz bewusst einem Risiko aussetzen, sei es nun in der Luft, sei es auf dem Land, oder sei es unter Wasser, da ist natürlich schon eine gewisse Problematik auch dabei. Das will ich überhaupt nicht verhehlen. Solange man das Risiko kalkulieren kann, kann ich damit gut leben. Solange es auch gewisse Sicherheitsmaßnahmen gibt, finde ich alles in Ordnung. Aber wenn man wirklich ganz bewusst sein Leben riskiert und eben nicht weiß, wo die Grenze möglicherweise ist, das halte ich schon auch für eine problematische Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft, dass das einerseits durch Sponsoren dann unterstützt wird.

Andererseits werden sicherlich heute sehr viele Menschen live im Internet dabei sein, wenn dieser Sprung durchgeführt wird. Da, denke ich, wartet man ja sozusagen fast nur darauf, dass etwas passiert. Und wenn ich jetzt heute über Herrn Baumgartner gelesen habe, was alles passieren kann, ein kleiner Riss in seiner Kleidung und, ich glaube, die Augäpfel fangen an zu rotieren, Blut tritt aus, ich weiß nicht, ob das wirklich dann live im Internet übertragen werden muss.

Wuttke: Aber trotzdem noch mal die ganz schlichte Frage. Es gibt ja für Sie offensichtlich Extremsportarten, die Sie durchaus goutieren können. Was ist denn dieser Kick? Warum bleiben wir nicht beim Fußball, beim Handball und gehen ab und an mal schwimmen und auf den Berg?

Reinhardt: Es gibt natürlich neben diesen zwei Kernmotiven, Spaß haben und diese Angstlust, schon viele andere Dinge, die auch gut tun, wenn man eine gewisse Sportart ausübt. Das ist eine Flucht vor der Langeweile des Alltags, man erlebt den ultimativen Kick, es ist eine Art Probier- oder Experimentierfreude, man begibt sich in einen Wettkampf mit den Naturgewalten und für den einen oder anderen ist das sicherlich auch der Lebenstraum, der erfüllt wird – denken wir nur an diese ganzen Bergexpeditionen zum Himalaja hin und auf den Mount Everest. Also da gibt es schon sehr vielfältige Motive.

Was man immer unterscheiden muss ist eine Trend- oder Funsportart, was Sie auch vorhin angefügt haben, das Bungee Jumping oder River Rafting. Das ist alles okay, weil es eben kalkulierbar ist und man sich dann auf das Material auch verlassen kann.

Anders sieht es jetzt aus beim heutigen Sprung von Herrn Baumgartner. Es sieht aber auch anders aus, wenn man jetzt an Apnoetauchen denkt, also das Tauchen ohne zusätzliches Atemgerät in große Tiefen. Es geht ums Bergsteigen, wenn man eben keine Sicherungsseile benutzt, also das Free Climbing im eigentlichen Sinne. Das sind Dinge, wo man sich nur auf sich selber verlässt und darauf hofft, dass dann nichts passiert, weil man entsprechend gut trainiert ist.

Wuttke: ... , sagt Ulrich Reinhardt, der Leiter des Instituts für Zukunftsfragen in Hamburg, bevor sich über der Wüste von Neu Mexico heute ein Mann über 35 Kilometer (Anm. der Redaktion: An dieser Stelle weicht die Schriftfassung von der gesendeten Fassung ab.) in die Tiefe stürzen will. Herr Reinhardt, drücken wir dem Mann mal die Daumen. Vielen Dank!

Reinhardt: Sehr gerne. Bis zum nächsten Mal!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.