Von Arno Orzessek

"Eine Lothar-Matthäus-Passion der Qual bei der Ruhrtriennale", kritisiert die "Welt" das Tanztheaterstück "Pitie! Erbarme dich!". Unter dem Titel "Unter Lautsprechern" schreibt die "SZ" über die "neuen Dissisdenten", zu denen sie den Historiker Götz Aly und den Publizisten Hendryk M. Broder rechnet. Die "FAZ" lobt Hans-Ulrich Wehlers Buch "Deutsche Gesellschaftsgeschichte".
Im aktuellen Feuilleton fallen zwei Überschriften aus der Reihe.

Halb Dada, halb gaga formuliert Stephan Keim in der WELT:

" Eine Lothar-Matthäus-Passion der Qual bei der Ruhrtriennale. "

Die Unterüberschrift präzisiert:

" Alain Platel scheitert in Bochum mit Bach. "

Mit diesem Doppelschlag ist im Grunde alles gesagt. Keims Resümee, dass sich Platels Tanztheater pitie! Erbarme dich! im "formlosen Aneinanderreihen mittelmäßiger Einfälle", [in] "Kitsch und Kunstgewerbe" verliere, erscheint nur noch redundant.

Worauf dagegen der Artikel "Unter Lautsprechern" hinaus will, verrät Thomas Steinfeld, der Literatur-Chef der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, auch in der Unterüberschrift nicht. Sie lautet:

" Die neuen Dissidenten und ihr Kampf gegen die Vernunft "

Wer, bitte schön, sind diese neuen unvernünftigen Dissidenten? Man erfährt es weder im ersten noch im zweiten Absatz. Doch im dritten – als hätte er tief Atem geholt –, legt sich Steinfeld seine prominenten Gegner zurecht und es wird interessant:

" Der Historiker Götz Aly vergleicht die revoltierenden Studenten von 1968 mit den Nationalsozialisten, der Publizist Hendryk M. Broder hält Toleranz für "gesellschaftlichen Selbstmord auf Raten", und die alten Radaubrüder André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy lassen auch nicht locker. "

Hendryk M. Broder hatte kürzlich behauptet: Die Israel-Kritikerin Evelyn Hecht-Galinski dürfe sich den Vorwurf, sie sei Antisemitin, nicht verbitten, weil sonst – so Broder im O-Ton – "Antisemiten entscheiden dürften, was Antisemitismus ist, als ob Pädophilie entscheiden könnten, was echte Kinderliebe ist." Darüber nun schwillt Thomas Steinfeld die Zornesader wie selten:

" Dieser Satz ist eine moralische Keule der furchtbarsten Art: Er lässt der Gegnerin keine Chance, indem er sie einem universellen Verdacht aussetzt, dessen einziger Herr Hendryk M. Broder selbst ist. Und er ist kokett genug, diesen Triumph im Niedermachen einer Opponentin zu genießen. Mit gutem Gewissen zu verachten – auf diesen Zweck hin ist dieser Satz angelegt. "

Um Thomas Steinfelds Attacke auf zynische Krawall-Intellektuelle wie Hendryk M. Broder zu unterstützen, hier noch ein letztes Argument des SZ-Autors gegen die "modischen Dissidenten" – wie er sie nennt:

" Es ist wohl immer auch ein ästhetischer Reiz, der sie in ihre haltlosen Thesen treibt, ein Element von Pop, eine Sehnsucht, für alle sichtbar eine bis dahin große, leere Fläche in der Öffentlichkeit für sich allein beanspruchen zu können, zum Plakat, zur Comic-Strip-Figur seiner selbst werden zu dürfen. "

So ist es, sagen wir – und wechseln das Thema.

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG lobt der Schriftsteller Dieter Wellershoff Hans-Ulrich Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte". Allerdings hat Wellershof nicht den fünften Band im Auge, dessen Darstellung der DDR-Geschichte heftige Polemiken erregt hat, sondern den vierten, den Weltkriegs-Band.

" Wehlers Darstellung ist aus der Vogelperspektive des historischen Überblicks geschrieben, gehört aber zum Bannendsten, was ich darüber gelesen habe. "

Derart angespornt, erzählt Dieter Wellershof in der FAZ, wie er im Untergang des deutschen Heeres sein nacktes Leben retten konnte und wie die Erfahrung der Hitler-Diktatur sein Verständnis von Literatur beeinflusst hat:

" Als Ende der sechziger Jahre die These aufkam, die Literatur müsse der "politischen Alphabetisierung" dienen, hielt ich dagegen, dass Literatur die Gegenstimme aller Gewissheiten und Normen sei, nämlich eine imaginäre Probebühne für das gesamte Spektrum der menschlichen Möglichkeiten. "

Weniger dem Imaginären als vielmehr der Dokumentation von Wirklichkeit verpflichtet sieht sich der Regisseur Andreas Dresen. Er hat mit "Wolke 9" eine leidenschaftliche Affäre zweier alter Menschen verfilmt, Sex eingeschlossen.

[Dresens] "Filme sind nichts Halbes und nichts Ganzes" mosert Kritiker Michael Kohler in der FRANKFURTER RUNSCHAU. Im krassen Kontrast dazu behauptet Schriftsteller Christoph Klimke in der WELT, Dresen sei "ein beklemmend schöner Film für alt und jung" gelungen.

Mag diese Formulierung arg ranzig sein – die Überschriften auf der ersten Feuilleton-Seite der WELT sind es nicht.

" Jesus mit Erektion sorgt in Großbritannien für Ärger "

heißt eine,

" Tarnen, täuschen und verpissen "

eine andere.

Worauf wir aber nicht mehr eingehen können.