Von Arno Orzessek

Die "Süddeutsche" rezensiert Kathrin Rögglas Theaterstück "Die Beteiligten" und Harald Martensteins Roman "Gefühlte Nähe". Die "Welt" hingegen setzt sich mit schlechtem Sex in der Literatur bzw. mit dem Verschwinden von Sex aus der Weltliteratur auseinander.
Im genauso hartnäckigen wie inoffiziellen Überschriften-Wettbewerb der hiesigen Blätter liegt nach unserem Dafürhalten die Feuilleton-Redaktion der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vorn und sie lässt sich auch in der aktuellen Ausgabe nicht lumpen.

"Wie Rotkäppchen 3096 Tage im Bauch des Wolfes überlebte", steht über einem Artikel von Helmut Schödel, der die Wiener Aufführung von Kathrin Rögglas "Die Beteiligten" gesehen hat. Thema des Theaterstücks ist der mediale Rummel um die Entführung von Natascha Kampusch, der es nach 3096 Tagen gelungen war, aus ihrem Kellerverlies zu flüchten, wenn man metaphorisch so will: aus dem Bauch des Wolfes in die Fangzähne der Medienmeute, von denen sich die intelligente Natascha allerdings auch nicht zerreißen ließ.

Neben der märchenhaftesten Überschrift des Tages hat die SZ auch die erstaunlichste, rhetorisch aufwendigste Unterzeile im Angebot, obwohl die Unterzeile als solche ja eigentlich - im Gegensatz zur Überschrift als raffiniertem Appetithappen - die Rezeptur des Artikels prosaisch nüchtern verzeichnen soll.

Christopher Schmidts Buchkritik "Mario Barth für gebildete Stände" bekam indessen folgende Zeile verpasst:

"Harald Martensteins Roman 'Gefühlte Nähe' gibt sich als launiges Paarungsbrevier, doch dahinter verbirgt sich der weinerliche Revanchismus einer verhausschweinten Männlichkeit."

Ein derartiges Ungetüm von Unterzeile passt natürlich nur ins Blatt, wenn ein Artikel sechsspaltig gesetzt wird.

Und wer sich nun fragt, warum die SZ einen Roman von Harald Martenstein, der bei allem Respekt dann doch kein deutscher Philip Roth mehr wird, sechsspaltig besprechen lässt, dem sei verraten: Schmidts Sechsspalter ist gerade 21 Zeilen hoch, also extrem platt, nichtsdestotrotz aber lesenswert, gerade, wenn man böse Töne mag.

"All das wehe Weichei-Getue, die geschmerzte Männlichkeit und jene Sorte preisreduzierter Melancholie, wie sie bei Dussmann an der Kasse ausliegt, sind hier nur Tarnung. Dass nicht allein die weibliche Hauptfigur, sondern auch die Männer, die an ihren Fäden zappeln, schemenhaft bleiben, hat damit zu tun, dass Martenstein immer schon die Unmöglichkeit der Liebe voraussetzt, die er zu beweisen vorgibt."

So motzt SZ-Autor Schmidt und resümiert nach einem Seitenblick auch auf Thomas Hettches Roman Die Liebe der Väter:

"Auf dem Vormarsch ist anscheinend eine neue Männerliteratur, die sich billiges revanchistisches Sexualgejammere auf die Fahne geschrieben hat und das für originell hält."

Mit Sexualgejammere rein gar nichts am Hut hatte der ehemalige britische Premier Tony Blair, während er seine Memoiren schrieb - im Gegenteil:

"In jener Nacht des 12. Mai 1994 brauchte ich diese Liebe, die Cherie mir gab. Ich verschlang sie, um mir Kraft zu holen. Ich war ein Tier, das seinen Instinkten folgte", bekannte Tony Blair. Wie die Tageszeitung DIE WELT berichtet, wurde Blair für seine peinlichen Klischees für den diesjährigen Bad Sex in Fiction Award, dem Preis für die schlechteste Sex-Darstellung, nominiert.

WELT-Autor Peter Praschl findet es bedenklich, dass die Literatur im engeren Sinne derart keusch geworden ist, dass ein Memoiren-Sachbuch das Rennen um den Miesen-Sex-Preis machen könnte - und er referiert die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kathie Rolphie:

"Hatten es Giganten wie John Updike, Philip Roth oder Norman Mailer noch als heilige Aufgabe empfunden, Ehebruch, Masturbation und Schlüsselpartys in der Vorstadt zu beschreiben, seien ihre Nachfolger nur in einem obsessiv: ihrer Enthaltsamkeit. Autoren wie Jonathan Franzen sind zu cool für Sex, trauen dem Sex schon lange nicht mehr zu, ontologische Verzweiflung zu kurieren, und hassen die alten Männer mit Johannistrieb."

Peter Praschl vergisst nicht zu erwähnen, dass der unglückliche David Foster Wallace John Updike einen "'Penis mit Wörterbuch'" genannt hat, und er wünscht sich, dass der britische Bad Sex in Fiction Award sein pädagogisches Ziel niemals erreicht:

"Haben wir nicht ein Recht auf schlechten Sex? Alles muss man selber machen."