Von Aschenbach bis Zeitblom (1)

Von Joachim Scholl · 08.08.2005
Thomas Manns Romanfiguren gehören zum kollektiven Gedächtnis der literarischen Welt. Jeder Leser kennt die weit verzweigte Buddenbrooks-Familie, das Sorgenkind Hans Castorp oder den fiktiven Biografen Serenus Zeitblom. Zum 50. Todestag von Thomas Mann stellen wir einige Figuren aus dem Werk des Schriftstellers von A bis Z vor. Im Mittelpunkt diesmal: Die Hauptfigur aus "Tod in Venedig" Gustav von Aschenbach.
Film "Tod in Venedig":
"Die Schöpfung von Schönheit und Vollkommenheit ist ein geistiger Akt.
Aber nein, Gustav, nein, Schönheit gehört ins Reich der Sinne, Schönheit ist sinnlich!
Der Weg zum Geist führt niemals, der Weg zum Geist führt nie über die Sinne. Ausgeschlossen! Allein die vollkommene Beherrschung der Sinne lässt uns das Wesentliche erreichen, Weisheit, Wahrheit und menschliche Würde."

Das sagt mit aller Entschiedenheit - ein Schriftsteller, ein Künstler. Vom Publikum verehrt, für seine Verdienste in den Adelsstand erhoben, ist er mit 50 auf der Höhe seiner Meisterschaft...

"Gustav von Aschenbach war etwas unter Mittelgröße, brünett, rasiert. Sein Kopf erschien ein wenig zu groß im Verhältnis zur fast zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel gelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine hohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn."

Doch auch ein Geistesmensch braucht mal Entspannung, Urlaub, Aschenbach fährt nach Venedig. Und dort, im mondänen "Hotel des Bains" am Lido, begegnet ihm sein Schicksal, in Gestalt eines 14-jährigen Teenagers...

"Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz war von so einmalig persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte."

Das ist Tadzio, und von Stund an ist Gustav von Aschenbach ein anderer – tief bewegt, erschüttert, verliebt. Er folgt dem Schönen auf Schritt und Tritt, alle Prinzipien von Zucht und Würde zerrinnen, beim Friseur ist schließlich alles aus...

Film "Tod in Venedig": "Sie wissen doch, Signore, man ist so alt, wie man sich fühlt und keinen Tag älter. Sie zum Beispiel haben ein Recht auf Ihre natürliche Haarfarbe...scusi...und ich werde Sie ihnen wieder zurückgeben, im Handumdrehen..."

Thomas Mann schrieb seine Novelle "Der Tod in Venedig" im Jahr 1911 nach einer Venedig-Reise. Aschenbachs Vornamen entlieh er sich von Gustav Mahler, der berühmte Komponist war damals überraschend gestorben. Den Knaben Tadzio hat es tatsächlich gegeben, ein kleiner polnischer Adeliger, der vor dem entzückten Thomas Mann am Strand herumsprang. Ob ihm da wohl schon das letzte Bild, der legendäre Schluss-Satz eingefallen ist? Wie Aschenbach, an der Cholera erkrankt, im Liegestuhl sitzt, Tadzio sieht – und stirbt...

"Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode."
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