Von Aschenbach bis Zeitblom (5)

Von Joachim Scholl · 10.08.2005
Zum 50. Todestag von Thomas Mann stellen wir Figuren aus dem Werk des Schriftstellers von A bis Z vor. Im Mittelpunkt steht diesmal Gregorius aus "Der Erwählte". Den Stoff für den "kleinen archaischen Roman", wie Mann ihn nannte, bezog er aus einem mittelhochdeutschen Versepos.
" Christlicher Leser! Höre und glaube mir! Großes und Eigentümliches habe ich dir zu berichten, Dinge, die zu erzählen Mut erfordert. Wenn ich aber den Mut finde, sie auszusagen, so solltest du dich schämen, nicht soviel Mut aufzubringen, sie zu glauben."

Es ist in der Tat unglaublich, was der Mönch Clemens im mittelalterlichen Kloster St.Gallen zu erzählen hat: die Legende vom Papst Gregor, der aus tiefster Sünde nach größtmöglicher Buße zur höchsten Weihe gelangt – auf den Heiligen Stuhl. Für die erste Sünde kann er noch nichts: seine Eltern Sibylla und Wiligis sind nämlich Bruder und Schwester. Als halbe Kinder noch begehen sie den Inzest, das Ergebnis wird auf dem Meer ausgesetzt nebst einer Schrifttafel, auf der das Schicksal des Säuglings verzeichnet ist.

Aus den Wellen herausgefischt und zu einer Abtei weitergeleitet, wächst Baby Gregorius zu einem frommen, dazu ausnehmend hübschen Jüngling heran. Dummerweise erfährt er mit 17 die Wahrheit über seine Herkunft, zerknirscht macht er sich auf, Genaueres zu erfahren – und landet nach etlichen Abenteuern ausgerechnet im Bett seiner Mutter Sibylla, die prompt schwanger wird. Als es den beiden dämmert, ist der Jammer groß, jetzt muss gebüßt werden wie noch nie! Die Mama begibt sich ins Hospiz, um die nächsten 20 Jahre die Kranken zu baden, Gregorius kettet sich an einen einsamen Felsen mitten im Meer.

Aus "Der Erwählte":
" Meine wahrhaftige Mitteilung ist: Auf dem engen Geviert der Kegelplatte dieses wilden Steines im See verbrachte Gregorius, des Wiligis und Sibyllas Sohn und Gatte der letzteren, mutterseelenallein und bar aller Gnade so viele Jahre, wie er gezählt hatte, als er tadelnswerterweise sein Kloster 'Not Gottes' verlassen hatte – volle siebzehn Jahre verbrachte er dort. "

Dann wird Gregor erlöst – und Papst! Praktischerweise kann er nun sich und der Mutter die Inzestsünde vergeben, froh lebt Gregorius fortan im Kreise der Seinen, nebst einer Tochter, die zugleich seine Schwester ist. So geht es zu in Thomas Manns "Der Erwählte", dem "kleinen archaischen Roman", wie ihn der Autor nannte. Er schrieb das Büchlein 1948, gewissermaßen als humoristische Entspannung von seinem Schmerzensbuch "Doktor Faustus". Stoff und Story bezog Thomas Mann hauptsächlich aus einem mittelhochdeutschen Versepos, und er machte sich den Spaß, für die Dialoge eine eigene, drollige Sprache zu erfinden: "Wollt es ihn gelüsten nach meinen nur wenig müden Brüsten", hofft die reife Sibylla, als sie den schönen Sohn erblickt. Ist das alles zu glauben? Man lese vergnügt und reibe sich die Augen ...

Rückblick Folge (1) bis (4):

Gustav von Aschenbach aus "Der Tod in Venedig" (1)
Hanno Buddenbrook aus "Buddenbrooks" (2)
Clawdia Chauchat aus "Der Zauberberg" (3)
Johannes Friedemann aus "Der kleine Herr Friedemann" (4)
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