Von Athen bis Brüssel
Christian Meier zeigt in seinem Band "Kultur, um der Freiheit willen", dass die europäische Kultur nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition, sondern auch in der griechischen Antike verwurzelt ist.
"Wo fängt Europa an? Soll man Europa und seine Geschichte etwa dort beginnen lassen, wo sich die Völker, zumal im Westen und in der Mitte des Erdteils, einer Gemeinsamkeit bewusst werden?"
Man kann diese Eröffnung als eine Montage von Athen und Brüssel, dem attischen Seebund und der Europäischen Union verstehen. Von welchen zweieinhalbtausend Jahre alten Gemeinsamkeiten soll also hier die Rede sein? So verwegen die Parallele klingt, sie formuliert die Perspektiven sehr genau. Meier beantwortet seine Frage, indem er ein Menschenbild vorstellt, ein spezifisch europäisches, das griechische, und er zeigt, dass es – im Kern – auch unser Menschenbild ist. Diese Sicht hat zwar eine lange und deutsche Tradition, besonders seit Winckelmann und Hölderlin, aber nun wird sie politisch gewendet, gewissermaßen als geistiges Grundgesetz Europas eingefordert, als ein Stück historischer Anthropologie. Und hier ist Meier keineswegs mehr zögerlich. Die Menschheit hat zwar mehrere Hochkulturen hervorgebracht: die südamerikanischen, die fernöstlichen, die indische, die assyrische, die ägyptische, aber keine – das macht Meier deutlich - ist vergleichbar mit der griechischen. Sie verwirklicht einen, den noch immer gültigen, letzten Bewusstseinssprung der Menschheit. Es handelt sich nämlich um einen Irrtum, wenn wir Europa als Erben einer jüdisch-christlichen Tradition verstehen. So eine Tradition gibt es gar nicht. Das Christentum ist selbst Erbe des Judentums und dem Judentum keineswegs ebenbürtig. Daneben gehört aber eben auch Griechenland zu unseren kulturellen Vorfahren.
Die großen Fragen der europäischen Kultur sind griechische Fragen: Was ist Wahrheit, was ist Gerechtigkeit, was ist Schönheit, was ist das Gute, was ist der Kosmos? Die Kirchenväter der Kirchenväter sind beide heidnische Griechen: Aristoteles und Platon. Und das Neue Testament ist in Griechisch verfasst. Und die vatikanischen Museen sind gefüllt mit griechischen Statuen. Als Christen sind wir die Erben sowohl von Athen und Sparta als auch von Jerusalem und Jericho – ein bisschen mehr aber vielleicht doch der Griechen. Es gibt nur ein spezifisch christliches Thema, eine Vision, die weder griechisch noch jüdisch ist: die Heilserwartung, die Utopie, das Prinzip Hoffnung, die Apokalypse. Die einzige Frage, die Griechen und Christen gleichermaßen beschäftigt, ist die nach der Liebe.
"Es spricht jedenfalls vieles dafür, Europa nicht einfach ethnisch, von den Völkern, sondern von dem her zu verstehen, was diese Völker so eigenartig durchdrungen, sie herausgefordert, was ihnen so ungeheuere Spielräume eröffnet, was sie (oder wenigstens mehrere von ihnen) zum Beispiel seit dem sechzehnten Jahrhundert dazu befähigt hat, die ganze Welt teils in Besitz zu nehmen, teils in den Bann zu schlagen; solange es dauerte. Eric Lionel Jones sprach deswegen vom europäischen Wunder. Das war, um es in einem Wort zu sagen, letzten Endes eine bestimmte, eben die europäische Kultur."
Was den Griechen ausmacht, ist seine Subjektivität, seine wilde Freiheit, sein leidenschaftliches Denken. Wir sind nur noch verkrustete Griechen, Krustentiere, die früher mal fliegen konnten wie der Adler des Zeus. Meier will uns wieder das Fliegen lehren. Sein Buch kann man als ein Angebot zum Griechischwerden lesen. Die Griechen erstrebten mehr, als wir ihnen abverlangen.
"Sie wollten vielmehr, wie Jacob Burckhardt es formuliert hat, 'selber ein Ganzes sein'. Und ihre Erfahrungen waren die des Umgangs, des Zusammenlebens mit anderen, mit Gleichen, von Streit, Ausgleich, Kampf und immer neuer existentieller Gefährdung: nicht nur des Einzelnen, sondern des Gemeinwesens. Die daraus sich für den Einzelnen und alle zusammen ergebenden Fragen haben sie in zum Teil erschreckender Offenheit und Konsequenz durchgespielt und Antworten gegeben, die sich bis heute immer neu als aktuell erweisen, bis weit in Wissenschaft und Philosophie hinein."
Aus der Geschichte lernen. Das geht, aber nur wenn man weiß, was man lernen will und wie man es lernen kann und ob man die Voraussetzungen dazu mitbringt. Könnten wir diese Fragen beantworten? Hätten wir Lust, sie zu beantworten? Vielleicht ist es das, was uns am meisten von den Griechen trennt: die Neugier - und auch das Selbstbewusstsein, von dieser Neugier rücksichtslos Gebrauch zu machen. Wenn irgendwann Salamis im deutschen Bewusstsein keine Wurst, sondern eine Insel ist, vielleicht sogar eine Schlacht, dann könnten wir aus der Geschichte gelernt haben.
Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?
Siedler Verlag, München 2009
Man kann diese Eröffnung als eine Montage von Athen und Brüssel, dem attischen Seebund und der Europäischen Union verstehen. Von welchen zweieinhalbtausend Jahre alten Gemeinsamkeiten soll also hier die Rede sein? So verwegen die Parallele klingt, sie formuliert die Perspektiven sehr genau. Meier beantwortet seine Frage, indem er ein Menschenbild vorstellt, ein spezifisch europäisches, das griechische, und er zeigt, dass es – im Kern – auch unser Menschenbild ist. Diese Sicht hat zwar eine lange und deutsche Tradition, besonders seit Winckelmann und Hölderlin, aber nun wird sie politisch gewendet, gewissermaßen als geistiges Grundgesetz Europas eingefordert, als ein Stück historischer Anthropologie. Und hier ist Meier keineswegs mehr zögerlich. Die Menschheit hat zwar mehrere Hochkulturen hervorgebracht: die südamerikanischen, die fernöstlichen, die indische, die assyrische, die ägyptische, aber keine – das macht Meier deutlich - ist vergleichbar mit der griechischen. Sie verwirklicht einen, den noch immer gültigen, letzten Bewusstseinssprung der Menschheit. Es handelt sich nämlich um einen Irrtum, wenn wir Europa als Erben einer jüdisch-christlichen Tradition verstehen. So eine Tradition gibt es gar nicht. Das Christentum ist selbst Erbe des Judentums und dem Judentum keineswegs ebenbürtig. Daneben gehört aber eben auch Griechenland zu unseren kulturellen Vorfahren.
Die großen Fragen der europäischen Kultur sind griechische Fragen: Was ist Wahrheit, was ist Gerechtigkeit, was ist Schönheit, was ist das Gute, was ist der Kosmos? Die Kirchenväter der Kirchenväter sind beide heidnische Griechen: Aristoteles und Platon. Und das Neue Testament ist in Griechisch verfasst. Und die vatikanischen Museen sind gefüllt mit griechischen Statuen. Als Christen sind wir die Erben sowohl von Athen und Sparta als auch von Jerusalem und Jericho – ein bisschen mehr aber vielleicht doch der Griechen. Es gibt nur ein spezifisch christliches Thema, eine Vision, die weder griechisch noch jüdisch ist: die Heilserwartung, die Utopie, das Prinzip Hoffnung, die Apokalypse. Die einzige Frage, die Griechen und Christen gleichermaßen beschäftigt, ist die nach der Liebe.
"Es spricht jedenfalls vieles dafür, Europa nicht einfach ethnisch, von den Völkern, sondern von dem her zu verstehen, was diese Völker so eigenartig durchdrungen, sie herausgefordert, was ihnen so ungeheuere Spielräume eröffnet, was sie (oder wenigstens mehrere von ihnen) zum Beispiel seit dem sechzehnten Jahrhundert dazu befähigt hat, die ganze Welt teils in Besitz zu nehmen, teils in den Bann zu schlagen; solange es dauerte. Eric Lionel Jones sprach deswegen vom europäischen Wunder. Das war, um es in einem Wort zu sagen, letzten Endes eine bestimmte, eben die europäische Kultur."
Was den Griechen ausmacht, ist seine Subjektivität, seine wilde Freiheit, sein leidenschaftliches Denken. Wir sind nur noch verkrustete Griechen, Krustentiere, die früher mal fliegen konnten wie der Adler des Zeus. Meier will uns wieder das Fliegen lehren. Sein Buch kann man als ein Angebot zum Griechischwerden lesen. Die Griechen erstrebten mehr, als wir ihnen abverlangen.
"Sie wollten vielmehr, wie Jacob Burckhardt es formuliert hat, 'selber ein Ganzes sein'. Und ihre Erfahrungen waren die des Umgangs, des Zusammenlebens mit anderen, mit Gleichen, von Streit, Ausgleich, Kampf und immer neuer existentieller Gefährdung: nicht nur des Einzelnen, sondern des Gemeinwesens. Die daraus sich für den Einzelnen und alle zusammen ergebenden Fragen haben sie in zum Teil erschreckender Offenheit und Konsequenz durchgespielt und Antworten gegeben, die sich bis heute immer neu als aktuell erweisen, bis weit in Wissenschaft und Philosophie hinein."
Aus der Geschichte lernen. Das geht, aber nur wenn man weiß, was man lernen will und wie man es lernen kann und ob man die Voraussetzungen dazu mitbringt. Könnten wir diese Fragen beantworten? Hätten wir Lust, sie zu beantworten? Vielleicht ist es das, was uns am meisten von den Griechen trennt: die Neugier - und auch das Selbstbewusstsein, von dieser Neugier rücksichtslos Gebrauch zu machen. Wenn irgendwann Salamis im deutschen Bewusstsein keine Wurst, sondern eine Insel ist, vielleicht sogar eine Schlacht, dann könnten wir aus der Geschichte gelernt haben.
Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?
Siedler Verlag, München 2009