Von Bagdad nach Berlin

Sherko Fatah im Gespräch mit Barbara Wahlster |
Auf dem Blauen Sofa spricht der aus dem Irak stammende Autor Sherko Fatah über seinen Helden Anwar. Der junge Araber gerät im Zweiten Weltkrieg unter den Einfluss der faschistischen irakischen Jugendorganisation - und begibt sich in ein geisterhaftes Exil nach Berlin.
"Es ist eine Art verlorener Geschichte, die ich da erzähle, oder im Grunde ist sie nicht verloren, sie ist nur einfach wenig bekannt, diese Geschichte. Dass es eben ein starkes Engagement der Deutschen, Hitler-Deutschlands, gegeben hat im Irak, das eben weit über das hinausging, was man eben so Beratertätigkeit nannte."

So beschreibt Fatah, Sohn eines Kurden und einer Deutschen, die Hintergründe seines neuen Romans, in dem er die Reise eines jungen Arabers durch eine Welt schildert, die zunehmend ihre Unschuld verliert.

Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern, von fernen Reisen und vielleicht ein bisschen von der Schwester seines jüdischen Freundes. Er träumt davon, ein "Jemand" zu werden, doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gerät er unter den Einfluss der "Schwarzhemden", der faschistischen irakischen Jugendorganisation. So nimmt ein wahres, aber bitteres Märchen seinen Lauf.

"Als Fremder kommt Anwar nach Deutschland, nach Hitler-Deutschland, erlebt diese entscheidende Phase auch in Berlin und kommt zurück, wie soll man sagen, als jemand, der zwar Täter geworden ist, ohne es aber je wirklich zu reflektieren, im Grunde jemand, der nur gelernt hat, dass er keinen Erfolg hatte mit allem, was er versuchte, nämlich aufzusteigen im Leben, irgendetwas zu werden, denn das ist sein stärkster Antrieb."

Wenn man so will, vollzieht der Roman "Ein weißes Land" anhand seines Protagonisten eine der gängigen Faschismustheorien nach. Demnach konnte der Nationalsozialismus nur so stark werden, weil er von Millionen aufstiegswilliger Kleinbürger getragen wurde, die im neuen politischen System eine Chance für den eigenen Aufstieg sahen.

Anwar wächst im Bagdad der 30er Jahre auf. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, aber die Tagelöhner mit ihrer schweren Arbeit sind ihm fremd – genauso fremd wie die verlockenden Paläste der Reichen. Er träumt davon, sein Glück zu machen, und die Cafés mit den unverschleierten Frauen und dem Zigarettenrauch ziehen ihn unwiderstehlich an. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, scheint Anwars Traum von den "schönen Häusern" und von Reisen in ferne Länder in Erfüllung zu gehen. Im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem, eines Bundesgenossen der Nationalsozialisten in Deutschland, flieht er 1941 nach Berlin.

Doch es ist ein geisterhaftes Exil, das ihn erwartet, und statt sein Glück zu finden, verliert er sich im Labyrinth der Geschichte und im Räderwerk des Krieges. Anwars Weg führt in die muslimischen Verbände der Waffen-SS, führt nach Weißrussland und endet bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Anwar wird überleben, wird in die Heimat zurückkehren, aber seine Träume sind alle grausam zerstört.

Für den aus dem Irak stammenden Autor lag der Reiz seiner Geschichte darin, sich auf die Spuren des frühen Antisemitismus im Nahen Osten zu machen und sich damit auch der Geschichte seiner eigenen Heimat anzunähern:

"Es ist ein Buch über die Frühzeit des Antisemitismus im Nahen Osten, vor der Entstehung des Staates Israel. Und das hat mich eben besonders interessiert, weil sich in der Verquickung mit der Geschichte Nazi-Deutschlands und der Beziehung zwischen Arabern und Deutschen für mich so eine Art Vorgeschichte der Ereignisse ergab, die wir jetzt noch anschauen können."


Sherko Fatah: Ein weißes Land
Luchterhand Literaturverlag, München 2011
480 Seiten, 21,99 Euro


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"Das Blaue Sofa" vom 14.10.2011: Gespräche auf dem Blauen Sofa - Live von der Frankfurter Buchmesse (DKultur)
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