Im Kulturzug ohne Kultur
Ein Kulturzug von Berlin nach Breslau - mit Lesungen, Vorträgen und Livemusik. Klingt gut, was die Deutsche Bahn hier bewirbt, doch der Zug ist völlig überfüllt, ein Ersatzbus steht bereit. Unser Autor bleibt trotzdem bis zuletzt optimistisch.
Halb neun früh auf dem Berliner Bahnhof Lichtenberg. An Gleis 15 eine Riesenmenschentraube, Altersdurchschnitt 60 plus. Alle wollen nur eins: in den Kulturzug nach Breslau.
Noch bevor der einfährt, sind schon viele mit den Nerven am Ende. Erst kurzfristiger Gleiswechsel, dann eine fälschlich angezeigte Verspätung von 90 Minuten. Schließlich wird durchgesagt, dass es nicht Sitzplätze für alle im Kulturzug gebe. Deshalb stehe zusätzlich ein Bus bereit. Die kulturlose Schlacht um die Sitzplätze im Kulturzug beginnt:
Ich habe Glück, als der Zug hält: direkt vor mir eine Tür. Ich steige ein. Meine Frau und mein Hund verlieren vorerst den Kampf gegen Ellbogen, können aber doch noch rechtzeitig ins Innere des Zuges gelangen. Andere müssen stehen oder sich auf den Boden setzen. Die Züge sind nicht klimatisiert. Die meisten Menschen schwitzen. Aber zum Trost gibt es ja ein Kulturprogramm.
"Der Schauspieler und Sprecher Michael Stoerzer unternimmt eine Expedition in eine spannende Zeit, als das musikalische Hörspiel und andere Formate erfunden wurden ..."
Auf dem Fußboden ohne Kultur
Mobile Bibliothek und ein live erzähltes Audiostück über die Anfänge des Radios in Breslau. Leider nur für die Menschen im letzten der drei nicht miteinander verbundenen Zugteile:
"Das ist nicht wahr, oder?!"
Doch. Kathrin Meier ist extra aus der Nähe von Lutherstadt Wittenberg nach Berlin gereist, um dort den Kulturzug zu nehmen. Nun sitzt sie auf dem Fußboden im mittleren Zugteil ohne Kultur.
"Ich verstehe nicht, warum hier so viel Karten verkauft wurden, wenn die Plätze so begrenzt sind, warum man das nicht anders organisiert hat. Wenn ich in einen Saal gehe, in ein Konzert, dann ist irgendwann ausverkauft. Also müsste so ein Kulturzug auch irgendwann ausverkauft sein."
Lustwandeln von Kulturstation zu Kulturstation wollte sie im Kulturzug. Sie ist sehr enttäuscht. Wenige Minuten später steigt sie in Cottbus aus und in einen der Busse nach Breslau: Kulturzug ohne Kultur und ohne Zug also. Frank Heinrichsdorf hat im Zug dagegen einen Sitzplatz bekommen und liest in aller Ruhe den Berliner "Tagesspiegel".
"Ich würde meinen Sitzplatz nicht aufgeben, um in den anderen Zugteil zu wechseln. Kultur im Stehen oder Kulturteil des 'Tagesspiegel' im Sitzen – ich glaube, ich habe mich entschieden."
Ich gebe meinen Personalausweis ab
Aber ich will Kultur im Zug. Koste es, was es wolle. Ich habe von einer netten Mitarbeiterin des Kulturzuges den Tipp bekommen, dass die Funkkopfhörer auch in meinem Zugteil funktionieren. Aber dazu müsse ich erst mal einen Kopfhörer aus dem letzten Zugteil holen. Innerhalb von einer Minute. So kurz ist nämlich der nächste Halt:
"Ja, da müssen Sie sportlich sein. "
Bin ich nicht. Aber ich versuche es trotzdem. Ich verabschiede mich von Frau und Hund für den Fall, dass ich es nicht mehr vor Breslau zurück auf meinen Platz schaffe.
Ich steige aus und renne so schnell ich kann ans Ende des letzten Zugteils.
"Kann ich einen Kopfhörer haben?"
"Ja. Pfand?"
"Ja. Pfand?"
Ich gebe meinen Personalausweis ab und renne zurück zum mittleren Zugteil, betrete ihn, kurz bevor die Tür zufällt. Geschafft. Ich bin völlig fertig. Meine Frau macht sich Sorgen. Als ich wieder ruhig atme, schalte ich die Funkkopfhörer an, um etwas über die Geschichte des schlesischen Radios zu erfahren:
Erschöpft steigen die Menschen aus
Der Empfang ist gestört. Ich gebe auf. Ich versuche mich in den Schlaf zu flüchten, um von Kultur zu träumen, werde aber bald von einer Durchsage geweckt:
"Wie hoch ist das durchschnittliche Monatseinkommen in Polen? 830 Euro."
Ich bin nassgeschwitzt und will nur noch den Zug verlassen. Nach viereinhalb Stunden ist es so weit:
"Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt in Breslau."
Erschöpft steigen die Menschen aus und verlassen den Bahnhof in Breslau. Ein Mann fotografiert allerdings noch in aller Ruhe den Kulturzug. Ich bewundere seine Gelassenheit.
Meine Frau und ich suchen uns ein Café in Breslaus Altstadt, trinken stundenlang Wasser und essen Eis, um uns zu erholen. Einige Pfadfinder spazieren an uns vorbei. Hat wohl etwas mit dem Kulturprogramm der Stadt zu tun. Und dann müssen wir auch schon wieder zurück zum Kulturzug nach Berlin. Dieses Mal hat jeder einen Sitzplatz. Wir und viele andere steigen bewusst hinten ein:
"Die Bibliothek befindet sich ganz vorne im ersten Zugteil. Kommen Sie einfach auf uns zu."
"Schlecht von dem Geschlinger"
Im ersten Zugteil! Und wir sitzen im letzten. Wieder keine Kultur im Kulturzug.
Kurz vor Berlin steht eine Frau an einem geöffneten Fenster.
Kurz vor Berlin steht eine Frau an einem geöffneten Fenster.
"Mir ist jetzt schlecht von dem Geschlinger und weil die die Fenster alle zugemacht haben."
Aber Breslau habe ihr gefallen. Da sei es nicht ganz so tragisch, dass es keine Kultur im Kulturzug nach Berlin gebe. Selbst der einzige große Programmpunkt ist abgesagt worden. Cornelia Niemann aus Frankfurt am Main nimmt es mit Humor:
"Jetzt beim Rückzug, muss ich ehrlich sagen, war ich ganz froh, dass keine Clubnacht stattgefunden hat. Wahrscheinlich haben die gemerkt, dass lauter ältere Leute im Zug sind, die keine Popmusik brauchen!"