Von Bismarck lernen?

Von Florian Felix Weyh · 01.02.2007
Die Sache beginnt mit einer unlauteren Absicht. 1880 legte ein Politiker seine Karten auf den Tisch. Schon immer habe ihn beeindruckt, schrieb er in einem Brief, "was ein schlecht bezahlter Beamter nur wegen einigen hundert Mark Pension sich von seinen Vorgesetzten gefallen ließe". Und nun könne man "den Arbeiter in eine ähnliche Lage wie den Beamten versetzen". Der Name des Briefeschreibers: Otto von Bismarck. Seine Erfindung: die staatliche Altersversorgung.
Wenn wir heute von Bismarck als Ausgangspunkt deutscher Sozialpolitik reden, übersehen wir gerne, wie raffiniert das von ihm etablierte System damals war. Dessen Grundgedanke bestand darin, die Kosten altersbedingter Invalidität von den kommunalen Armenkassen in ein kapital gedecktes Verfahren zu überführen, also dem Staat Zuschüsse zu ersparen; fällig wurde die Rente erst in einem Alter, in dem, statistisch gesehen, der Durchschnittsarbeiter schon zehn Jahre tot war: Massenhaft Frühverstorbene garantierten den wenigen Überlebenden ein Auskommen, falls sie im Alter arbeitsunfähig würden oder das 71. Lebensjahr erreichten, nach dem keine Invaliditätsüberprüfung mehr stattfand. Trotz seiner Unsentimentalität entsprach das System dem Arbeitsethos des Kaiserreichs. Noch 1906 schrieb der Sozialexperte Friedrich Kleeis, eine garantierte Altersrente ohne Invaliditätsannahme sähe für "die voll Erwerbsfähigen wie ein Geschenk" aus, das der Staat mit seiner Rentenversicherung keineswegs im Sinne hatte. "Das halten wir bei aller Pietät für das Alter denn doch nicht für wünschenswert." Wir hieß: die SPD, deren Funktionär Kleeis war; heute würde er für solche Worte von seiner Partei geächtet.

Ideengeschichtlich erwuchs unser Rentensystem also aus der Invalidenversicherung. Nun ist das System selbst invalide geworden, weil es eben keine Invalidität mehr versichert, sondern nur noch Individualität: den langen, langen Urlaub des letzten Lebensdrittels. Vor Bismarck definierte man Alter nicht durch eine staatlich festgelegte Schwelle, nach deren Überschreiten man die Hände in den Schoß legen kann, sondern ausschließlich durch Arbeitsunfähigkeit. "Der ideale Lebenslauf", beschreibt der Historiker Gerd Göckenjan die damalige Denkweise, "ist nicht nur Mühe und Arbeit, er endet auch idealerweise abrupt, aus den Pflichten des Lebens herausgerissen." Diese Härte mochte sich das 20. Jahrhundert nicht mehr zumuten – das 21. wird ihr indes kaum entkommen. Näher besehen ist es allerdings keine Härte, sondern eine Chance, deren innewohnende Würde zunehmend mehr alte Menschen erkennen.

Dass gesetzlich verfügt mit 67, 68 Jahren Schluss sein soll - und zwar ohne Rücksicht auf individuelle Leistungsfähigkeit - lassen sich beispielsweise immer weniger Wissenschaftler, Professoren, Notare oder auch Ärzte gefallen. Sie wollen weiterarbeiten und forschen, wenn sie sich dazu in der Lage sehen; der Ruhestand bleibe einer körperlich ausgelaugten Minderheit vorbehalten. Und das Abschreckungsszenario, die Alten würden in Zukunft Arbeitsstellen der Jungen blockieren, wird nicht wahrer, indem man es monoton wiederholt. Tatsächlich konkurrieren die Generationen überhaupt nicht miteinander, da Wissen, Erfahrung und Duldsamkeit des Alters ganz andere Aufgabengebiete abdecken als Schnelligkeit, Risikofreude und Ungeduld der Jungen. Für beide ist Platz.

Dieser Tage werde ich 44 Jahre alt, und das Rentnerdasein gehört nicht zu meinen Zukunftsszenarios - die ökonomischen Fundamente eines freiberuflichen Lebens gestatten solche Zielvorstellungen auch gar nicht. Ich werde arbeiten, bis ich tot umfalle oder Invalide geworden bin - und genau da liegt der springende Punkt. Aller statistischen Wahrscheinlichkeit nach reißt mich Freund Hein nicht mitten im Satz für ein Politisches Feuilleton aus der Vita activa, sondern trifft mit seiner Sense nur halb, weil ihm die Hightech-Medizin in die Arme fällt; Jahre als Pflegefall schließen sich an.

Diese Aussicht, ins Massenhafte gewendet, macht das Herumdoktern am Rentensystem so verantwortungslos: Allgemeine Rente mit 67 ist die gleiche Lachnummer wie allgemeine Rente mit 70 - man streiche das "allgemein", will man die Wahrheit erhalten. Im Grunde dürfte schon heute niemand mehr in Rente geschickt werden, der Arbeit hat und arbeiten kann. Alle Gelder des Transfersystems "Rentenversicherung" werden nämlich gebraucht, um die rasant wachsende Zahl langlebiger Invaliden zu versorgen.

Die ausgelagerte Pflegeversicherung wäre heute schon pleite, täte sie dies auf einem humanen Niveau, wozu mindestens eine Vervierfachung der Pflegesätze notwendig wäre. Wenn dann das System noch auf die ursprüngliche Bismarcksche Kapitaldeckung zurückgeführt wird, weil die demographische Entwicklung gar nichts anderes mehr erlaubt, gilt erneut die finanzmathematische Perfidie des Totenzuschusses: Die Hälfte der Einzahler muss schon gestorben sein, bevor die andere Hälfte in ihrer Erwerbsunfähigkeit finanziert wird. Rente des Jahres 2030 wird kein Anspruch auf Dauerurlaubsgeld sein, sondern nur noch eine Versicherung gegen schwere Invalidität. Wohl dem, der sich darauf jetzt schon einstellt.


Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen – Was wir haben, was wir können, was wir sind" erschien 2006. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.